© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Rückruf in die Geschichte
Ein politisches Fazit 15 Jahre nach dem Mauerfall
Karlheinz Weißmann

Wer den Stand der politischen Debatte heute mit dem zu Beginn der neunziger Jahre vergleicht, stellt dramatische Veränderungen fest. Dramatische Veränderungen, die allerdings kaum zur Kenntnis genommen werden. Wenn die Regierung über die Notwendigkeit spricht, deutsche Soldaten weltweit einzusetzen oder dem größeren außenpolitischen Gewicht Rechnung zu tragen, wenn der Kanzler mehr Leistung und weniger Anspruchsdenken fordert, wenn der Finanzminister zu der Einsicht kommt, daß man nur Geld ausgeben kann, das auch verdient wurde, wenn der Innenminister einen genetischen Fingerabdruck oder flächendeckende Videoüberwachung als notwendige Sicherheitsmaßnahmen bezeichnet, wenn er über die Behauptung, es sei vermehrte Zuwanderung nötig, mit einem Kopfschütteln hinweggeht und trotz des Widerstands seiner europäischen Amtskollegen Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika einrichten will und wenn schließlich ein deutsches Gericht erklärt, daß es sich keineswegs an alle juristischen Vorgaben aus Straßburg gebunden fühle, dann sind das Stellungnahmen, die kaum noch Kommentare hervorrufen, geschweige denn Kritik. In den neunziger Jahren hätte entsprechendes kein Politiker zu fordern gewagt. Wenn doch, dann wäre er sofort unter den Druck einer massiven Opposition geraten.

Diese Opposition wäre eine linke gewesen, denn die Linke verfolgte nach dem Zusammenbruch der DDR und der Vereinigung Restdeutschlands zwei Ziele: keine Nation und keine Normalität. Nirgends wurde das Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaats mehr gefürchtet als in Deutschland selbst. Man mußte nicht mit Günter Grass glauben, daß so ein neues Auschwitz möglich werde, es genügte, von der Labilität der politischen Vernunft in Deutschland überzeugt zu sein, um alle auf den Plan zu rufen, die an der Fesselung der kleinen Giganten interessiert waren. Deutschland sollte möglichst wenig Handlungsfreiheit haben, in seinem eigenen, im europäischen und im Interesse der Menschheit.

Gleichzeitig galt es, im Inneren alles unschädlich zu machen, was als Kern einer politischen Reorganisation hätte dienen können: von den institutionellen Resten und der verbliebenen Tradition bis zur nationalen Homogenität. Demographie galt als Hirngespinst und die Segnungen der multikulturellen Gesellschaft waren allgemeine Überzeugung. Wer vor dem Verfall von Ehe und Familie oder der Desorientierung in der Pädagogik warnte, mußte verknöchert sein, wer die Notwendigkeit militärischer Verteidigung vertrat, ein alter Narr, und wer meinte, daß Deutschland nach einer langen Karenz auf seinen Platz in Europa zurückkehren werde, um sich der Lösung jener Aufgaben zuzuwenden, die das Jahrhundert ungelöst gelassen hatte, sah sich ohne Umschweife als "Faschist" verschrien.

Etwas dezenter war der Vorwurf "Normalisierungsnationalist" (Peter Glotz), und es gab zu Beginn der neunziger Jahre eine Gruppe von Intellektuellen, die diese Bezeichnung durchaus zu akzeptieren bereit war - um sie ins Positive zu wenden. Was die "smarte junge Rechte" (The Times) als Agenda formuliert hatte, läßt sich immer noch ablesen an den damals von ihr in Umlauf gebrachten Stichworten: "Historisierung" des Nationalsozialismus, antitotalitärer Konsens, Bilanz der "Westbindung", die Wiedervereinigung als "Rückruf in die Geschichte", Schaffung einer zukunftsfähigen und "selbstbewußten Nation", eine "Berliner Republik", keine "DDR light".

Daß es ihr nicht gelungen ist, diese Agenda durchzusetzen, hatte viele Gründe. Einer war die Feigheit der Bürgerlichen, vor allem der bürgerlichen Parteien, ein anderer das neuerliche Erstarken der Linken, die eben noch 1989 als Niederlage der Gesamtbewegung verstanden hatte, sich aber erstaunlich schnell von ihrem Schock erholte und eine Revision vollzog.

Im Zentrum dieser Revision standen: Absage an die Vollversion des Sozialismus, Kaschierung der alten Sympathien für den Ostblock, Bekehrung zum Markt, wenn es denn nicht anders ging. Sie konnte nur gelingen, wenn man viel vergessen machte und ein neues Bild der eigenen ideologischen Entwicklung entwarf, kurz: wenn sich die Linke neu erfand.

Genau das hat sie getan und zwar mit Erfolg. Die Fähigkeit, sich selbst neu zu erfinden, erklärt viel vom andauernden Einfluß der Linken. Der wäre weniger beunruhigend, wenn man es mit einem tatsächlichen Zugewinn an Einsicht zu tun hätte. In Wirklichkeit unterwirft sich die Linke nur Zwangslagen, denen nicht auszuweichen war, beugt sich widerstrebend den Erfordernissen, die der Machterhalt mit sich bringt. Es ist keine List der Geschichte, wenn dieselben Kräfte, die die Teilung und Entmachtung Deutschlands zu ihrer politischen Maxime erklärt hatten, heute als "Realpolitiker" auftreten und sogar den Verdacht eines neuen "Wilhelminismus" wecken. Es ist kein Zur-Vernunft-gekommen-Sein der Politischen Klasse, sondern nur verzweifeltes Bemühen, sich im Besitz von Einfluß und Positionen zu halten, wohl wissend, daß jede Frage nach den Ursachen der Krise und den Verantwortlichen unangenehme Antworten und eine Diskreditierung der "Herrschenden" nach sich ziehen würde.

Es gibt gegenwärtig niemanden, der diese Frage so laut und so vernehmlich stellen könnte, daß sie unüberhörbar wäre. Auch das unterscheidet die heutige Lage von der in den neunziger Jahren: Es fehlt an einer Opposition, die den Namen verdient.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat in Göttingen


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