© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Der blinde Fleck ist geblieben
Der glückliche Moment 1989 wurde nur teilweise genutzt
Doris Neujahr

Der 9. November 1989 ist das glücklichste Datum in der jüngeren deutschen Vergangenheit. Leider hat man wenig aus ihm gemacht. Um mit dem Positiven zu beginnen: Die DDR konnte den Tag des Mauerfalls nicht überleben. Die Mauer war das Mittel zur kollektiven Freiheitsberaubung, die die Voraussetzung war, um das Sozialismus-Experiment auf deutschem Boden überhaupt durchzuführen. Zog man von Polen oder Ungarn den Sozialismus ab, blieben sie trotzdem als Nationen und Staaten bestehen. Die DDR war ohne den Sozialismus - nichts. Wohl hatten vierzig Jahre DDR zu spezifischen Eigenschaften und Ausprägungen geführt, die aber nicht hinreichend waren, um eine DDR-Identität zu erzeugen und eine separate Staatlichkeit zu rechtfertigen.

Und die BRD? Sie war der größere, erfolgreichere, mit mehr Legitimation ausgestattete Teil aus der Konkursmasse des Deutschen Reiches. Laut dem 1973 ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum deutsch-deutschen Grundlagenvertrag war sie rechtlich mit Deutschland identisch, territorial nur teilidentisch. Was die Teilung geistig und kulturell bedeutete, war man sich unsicher. Es existierte ein blinder Fleck, auf den wir noch kommen werden. Maßgebliche Intellektuelle neigten dazu, die Teilung moralisch überhöhen, als Strafe, als Lehre aus der Geschichte usw. Ihnen widersprach 1988 Martin Walser: "Diese Nation als eine gespaltene ist eine andauernde Quelle der Vertrauensvernichtung. Diese Nation widerspricht sich. Ich bin unfähig, nur weil ich in der BRD lebe, mich als Bewohner der BRD zu denken und zu empfinden. ... Ich kann keinen der beiden Staaten in mir oder überhaupt verteidigen. Jeder sozusagen natürliche Identifikationsprozeß (...) wird andauernd durch den anderen Teil der Nation gestört. Allmählich erfahre ich, daß nur noch eine Identifikation übrigbleibt: Die mit dem Widerspruch zwischen den beiden deutschen Teilen."

Der 9. November 1989 eröffnete die Chance, den Widerspruch aufzulösen. Statt dessen wich man ihm aus. Man dürfe nicht nationalistisch werden, hieß es, sondern habe den Nachbarn Dankbarkeit zu erweisen. Zur Grundformel wurde der Satz: "Wir wollen kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland." Das war politische Romantik pur. Gerade fällt sie uns auf die Füße.

Die Dankbarkeit konzentrierte sich auf den russischen Parteichef Michail Gorbatschow. Der war in der Tat ein Glücksfall und verdient Respekt und Bewunderung. Der sowjetischen Nomenklatura entstammend, brach er radikal mit ihren Dogmen. Darin liegt eine Größe, die ihm so leicht keiner nachmacht. Man sollte trotzdem nicht übersehen, daß seine Politik nicht altruistischen, sondern realpolitischen Motiven entsprang. Gorbatschow war zu der Einsicht gekommen, daß die Sowjetunion, wenn sie sich ökonomisch und sozial entwickeln wollte, sich politisch öffnen mußte und der Hilfe von außen bedurfte. Von den Bruderstaaten war nichts zu erwarten, denn nach vierzig Jahren Sowjetisierung waren sie vollständig heruntergewirtschaftet. Es blieb also nur der Westen, vor allem die Bundesrepublik.

Der Tag würde kommen, da die Grenze nicht mehr trennt

Parallel dazu versuchte Gorbatschow, die innerdeutschen Verständigungspolitik zu torpedieren, um Herr des Geschehens zu bleiben. Es ist keine Sympathieerklärung für Erich Honecker, den Mauerbauer, wenn man daran erinnert, daß er sich 1982/83 der Ausrufung einer deutsch-deutschen Eiszeit widersetzte, die die russische Führung - inklusive Gorbatschow - nach der Stationierung von Mittelstreckenraketen von ihm erwartete. Er bezeichnete die Raketen als "Teufelszeug", das aus Europa - und das hieß vor allem: aus Deutschland - wieder heraus müsse, ohne einen Unterschied zwischen amerikanischen und russischen Waffen zu machen. Seine Reise 1987 nach Bonn geschah gegen den ausdrücklichen Willen Gorbatschows. Als er im heimatlichen Saarland, von Gefühlen überwältigt, anfing zu stottern, die Grenzen seien nicht so, wie sie sein sollten, aber der Tag würde kommen, da sie die Deutschen nicht mehr trennen, sondern vereinen, da verlangte ein empörter sowjetischer Botschafter per Telefon umgehend Aufklärung. Die Tatsache, daß zur selben Zeit in der Sowjetführung ähnliche Überlegungen zur Deutschlandpolitik angestellt wurden, bildet dazu nur scheinbar einen Widerspruch. Wenn die deutsche Wiedervereinigung schon stattfinden mußte, dann doch bitteschön als lukratives Geschäft für die Sowjetunion. Hinter dem vielkritisierten späteren Starrsinn Honeckers steckte die Einsicht, daß für ihn die Rolle des Mohren vorgesehen war, der seine Schuldigkeit getan hatte. Man muß natürlich froh sein, daß es 1989 gekommen ist, wie es kam, aber um "Dankbarkeit" zum Dreh- und Angelpunkt der Selbstdefinition zu machen, gibt es weder politische noch historische Gründe.

Die zweite Ausweichvariante war die des "europäischen Deutschland", ein Begriff, der nicht nur die Verankerung in der EU meint, sondern eine vorbehaltlose Interessenidentität. Dem steht entgegen, daß die Europapolitik von den einzelnen Staaten nach wie vor als die Verlängerung nationaler Interessen begriffen wird. Die Partnerländer denken heute gar nicht daran, das schwächelnde Deutschland aus den finanziellen Verpflichtungen zu entlassen, die die prosperierende Bundesrepublik einstmals eingegangen war. Das deutsche Interesse kann also nicht darin liegen, in den Interessen der anderen aufzugehen.

Der 9. November 1989 hat sich längst noch nicht erfüllt

1989 standen - grob gesagt - drei Positionen zur nationalen Frage im Raum: Die emphatische, wie Martin Walser sie vertritt. Die Position der "Culpisten", zu denen Günter Grass und Walter Jens ("Keine Wiedervereinigung! Schuld!") zählen. Über ihren Standpunkt ist die Geschichte zwar hinweggegangen, doch in abgewandelter Form hat er neuen Einfluß gewonnen. Die dritte Position war die pragmatische eines Hans Magnus Enzensberger, der "Arbeit, Wohnen, Rente, Lohn" als die realen deutschen Interessen bezeichnete und jede Überhöhung, egal in welche Richtung, ablehnte. Diese Haltung war und ist die am meisten repräsentative. Sie entspricht dem eingangs erwähnten "blinden Fleck", dem weitgehenden Verzicht auf einen Unterbau aus Tradition, Langzeitgeschichte und -kultur, sie definiert das Gemeinwesen aus der Tautologie der Ökonomie und des Sozialstaates. Doch beide sind jetzt in die Existenzkrise geraten, und die Sinnstiftungsmaschine stottert.

Nicht ganz zu Unrecht werfen die Pragmatiker den tiefgründelnden Identitätssuchern vor, sie hätten zu den Sachfragen nichts zu sagen, als da wären: die Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, das Rentner-Land, das immer weniger Rentenbeiträger hat, die verfehlte Bildungs- und Forschungspolitik usw. usf. Umgekehrt müssen die Pragmatiker sich fragen lassen, wie weit ihr Pragmatismus denn trägt. Wie kommt es, daß ein Land, das auf intellektuellen Vorsprung angewiesen ist, nicht nur keine klugen Köpfe aus dem Ausland anzieht, sondern die eigenen außer Landes treibt und dafür Sozialfälle und Analphabeten en masse importiert? Ob das nicht mit dem Mangel an nationaler Empathie zusammenhängt, mit dem gestörten Selbstgefühl, mit anhaltender Vertrauensvernichtung? Der 9. November 1989 hat sich längst noch nicht erfüllt. Seine Einlösung ist eine Überlebensfrage. 


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