© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Und plötzlich hielt die Welt den Atem an
JF-Leser und Zeitzeugen berichten über eine Wende der Geschichte

 

Im Kibbuz

Ich befand mich am 9. November 1989 in Israel, mit dem ich seit langem freundschaftlich verbunden bin. An der Rezeption des Kibbuz-Gästehauses Kiryat Anavim bei Jerusalem erfuhr ich, daß die Mauer in Berlin gefallen war. Mir völlig unbekannte Israelis gratulierten mir. Das machte mich glücklich. Es war der Tag meiner Heimreise. Ein Thema beherrschte die Zeitungen im Flugzeug: der Fall der Mauer in Berlin - alles andere trat dahinter zurück. Ich konnte gar nicht genug davon lesen, "verschlang" alles, was damit zusammenhing. Dieser Heimflug wird mir unvergeßlich bleiben. Für meine Hoffnung, daß Deutschland wieder eine große, sich ihrer selbst bewußte Nation wird, werde ich weiterhin beten, jeden Tag.

Berta Böhm

 

 

Hymne im Lärm untergegangen

"Endlich Freiheit", so lauteten meine ersten Worte, als ich die Bilder von der Grenzöffnung an der Bornholmer Straße in Berlin über die Mattscheibe flimmern sah. Einfach toll und ganz ohne Blutvergießen. Würde das Bestand haben? Am 18. November fuhr ich das erste Mal nach West-Berlin, empfing mein Begrüßungsgeld aus den Händen von Walter Momper im Schöneberger Rathaus. Ich wollte endlich einmal RIAS-Berlin persönlich sehen, den Sender, der mich immer begleitet hat, trotz Störsendern und der Bedrohung durch SED-Aktivisten. Welch ein gewaltiges Fahnenmeer hatte es im damaligen Osten gegeben, aus der Parole: "Wir sind das Volk" wurde "Wir sind ein Volk". Die erste kalte Dusche für mich bedeutete die Einheitsfeier mit Helmut Kohl und anderen Spitzenpolitikern in Berlin. Vor lauter Lärm verstand man fast das eigene Wort nicht. Die Nationalhymne ging unter im Störfeuer von Krakeelern, Anarchisten und Gegnern des "vierten Reiches", wie die sich selbst bezeichneten. 

Dieter Martin

 

 

Für die Einheit gebetet

Den 9. November 1989 erlebte ich in Duderstadt an der damaligen Zonengrenze im Rahmen einer Konferenz. Als abends die Nachrichten von der Grenzöffnung durch die Medien ging, traf mich dies wie ein Schlag: Ich hatte am 17. Juni 1989 in der Fuldaer Michaelskirche mit etwa 300 Burschenschaftern einen Gottesdienst im Rahmen von deren Deutschlandtreffen gefeiert. Dabei hatten wir für die Freiheit und Einheit Deutschlands gebetet. Kirchenamtlich waren Gottesdienste für die "Freiheit und Einheit Namibias" verordnet worden. Die Nachricht vom Fall der Mauer und der Öffnung der Grenze war für mich eine Erhörung unserer Gebete. Ich schalt meinen Kleinglauben und nahm mir vor, alles für die Herbeiführung der Einheit zu tun. Inzwischen wundere ich mich über den Glauben der Deutschen in Ost und West, die anstatt anzupacken, "Weltmeister im Jammern" geworden zu sein scheinen.

Rolf Sauerzapf

 

 

Volksfeststimmung im Harz

Im November 1989 kursierten in meiner 15 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernten Heimatstadt Wernigerode täglich neue, für alle unglaubliche Nachrichten. Eines Tages hieß es, im Oberharz sei zwischen Elend und Braunlage durch Umlegen einiger Segmente des Metallgitterzaunes die Grenze geöffnet worden. So machte ich mich am folgenden Sonntag mit meiner Familie zu einem Besuch in das 20 Kilometer entfernte Braunlage auf. Wir mußten auf einer an der F 27 (heute B 27) liegenden Gebirgswiese hinter Elend unser Auto abstellen. Eine Weiterfahrt auf der völlig heruntergekommenen Straße war nicht möglich. Auf der Wiese standen bereits Hunderte von Autos. Von dort zog ein nicht endend wollender kilometerlanger Zug von "Grenzgängern" in Dreier- und Viererreihen Richtung Braunlage: Junge und Alte, zünftig gekleidete Wanderer und Stadtmenschen, die vermutlich zum ersten Mal im Gebirge waren, Flotte und Fußlahme, Mütter mit Kinderwagen und Frauen in Stöckelschuhen. Nach drei Kilometern war der Grenzfluß Bremke erreicht, und es ging über eine vom Technischen Hilfswerk errichtete Notbrücke nach Niedersachsen hinein in das noch zwei Kilometer entfernte Braunlage. Im Ort herrschte Volksfeststimmung. Alle Geschäfte waren geöffnet. Die Vereine des Ortes gaben in Buden kostenlos Getränke, Kuchen und Bratwürste aus. Wir gingen in die schöne Holzkirche, die ebenfalls geöffnet war, und sprachen ein Dankgebet. Beim Gang durch die Stadt trafen wir unseren Nachbarn, der völlig fassungslos jedem zuschrie, daß er soeben eine Kaffeemaschine für 25 DM erstanden habe. Und plötzlich bog mit klingendem Spiel der Spielmannszug der Freiwilligen Feuerwehr Elbingerode um die Ecke und wurde begeistert begrüßt. Es war für uns alle ein unvergeßlicher Tag. Die Begeisterung hielt beiderseits einige Monate an.

Ernst-Jürgen Wolter

 

 

Wahnsinn

Das gibt's doch nicht! Was hat der Schabowski da eben gesagt? Reisefreiheit? Das heißt doch nicht etwa ...? Doch! Doch, das heißt: "Die Mauer ist auf!" Lachen unter Tränen. Ungläubiges Starren auf den Fernseher. Fassungsloses Kopfschütteln. Wahnsinn! Wir haben es doch noch erlebt! Jetzt kommt die Wiedervereinigung, die wir zeit unseres Lebens herbeigesehnt hatten, allen Tatsachen und leider auch fast allen Äußerungen unserer "Eliten" zum Trotz. Aber was sitzen wir hier in Süddeutschland vor dem Fernseher herum? In Berlin findet jetzt Geschichte statt! Am nächsten Abend landen wir in Berlin und tauchen zwei Tage lang ein in ein unbeschreibliches Freudenfest. Die Stadt ist voller Menschen. Wach, angespannt, leise stehen sie an der Mauer, schauen hinauf zu den unbewaffneten Vopos, fotografieren, lugen durch die Löcher, die "Mauerspechte" trotz milder Verbote schon in den "Friedenswall" geschlagen haben. Wildfremde Menschen sprechen miteinander, lachen, schütteln den Kopf, und immer wieder sagt jemand: "Wahnsinn!"

Wir erleben, wie durch die neue Mauerlücke am Potsdamer Platz die Menschen strömen - vom Osten in den Westen! Einfach so! Sie halten ihre Ausweise hoch und sind durch. Unfaßbar! Sie sind da. Und es fällt kein Schuß! Mit Blumen werden sie empfangen, Bürger schenken spontan Kaffee aus Thermoskannen aus. S- und U-Bahnfahrten sind kostenlos. Niemand drängelt in den übervollen Zügen, niemand grölt oder provoziert an der Mauer. "Wahnsinn" ist das Wort des Tages. Seitdem arbeiten viele arglistig daran, eine "Mauer in den Köpfen" zu implantieren, denn ein "einig Volk von Brüdern" paßt so manchem noch nicht ins Konzept. Fahre also jeder "rüber" und mache sich in vorurteilsfreien Gesprächen mit Landsleuten ein eigenes Bild! Die überwältigende, spontane Hilfsbereitschaft bei den beiden großen Fluten hat es bewiesen, und wir sollten es immer im Bewußtsein behalten: Wir sind ein Volk! 

Christa Braun

 

 

Sehnsucht nach dem Ku'damm

Am Donnerstag, dem 9. November 1989 verfolgten wir ungläubig die im Fernsehen unsicher vorgelesene dürre Pressemitteilung über Reisefreiheit in Richtung Westen. Trotz der dramatischen Szenen an der Mauer wollten wir es die Nacht auf sich beruhen lassen, wenn nicht unsere Kinder, Student in Bernburg und Praktikant in Leipzig, unser Telefon am Abend klingeln ließen und von den Eltern Gewißheit haben wollten. Kurzer Entschluß: Kommt morgen nach Hause! Wenn wir fahren, dann nachts wegen befürchteter Staus. Am Freitag klappt alles spontan: Mittagessen zu viert, auf dem Polizeirevier Stempel in die Personalausweise, tanken und Licht beim Wartburg prüfen, einige Stunden Ruhe, dann Aufbruch vor Mitternacht. Mondhelle Nacht auf der Autobahn, beinahe tagheller Verkehr. Uns treibt die Sehnsucht nach dem vereinten Berlin. Dort sind Frau und Kinder geboren. Als Liebespaar waren die Berlinerin und der Königsberger aus Mecklenburg in einer Sommernacht 1959 über den Kurfürstendamm geschlendert. Acht Tage nach unserer Hochzeit in Wismar wurde die Mauer durch Berlin und Deutschland gebaut. Erst nach anderthalb Jahrzehnten konnte meine Frau mich ihren Eltern aus Frankfurt (Main) und ihrem Onkel aus Berlin-Mariendorf vorstellen. Am Sonnabendmorgen um halb drei standen wir in der Autoschlange am Kontrollpunkt Dreilinden. Aus dem Fahrerwechsel mit dem Sohn wurde nichts. Nun fuhr ich über die Avus direkt auf den Kurfürstendamm und parkte nach Ermutigung durch eine Nachtschwärmerin auf dem Bürgersteig. Die Schlangen vor den Bankfilialen im kalten Nebel und im Dunst unter den Straßenlaternen ergaben das Bild eines Heerlagers. Dies liefen wir ab, bis wir zu angemessener Stunde den unangemeldeten Besuch bei einer lieben Cousine in der Nähe wagten. Telefonieren nach Westen war ein Kunststück. Den Onkel "überfielen" wir erst gar nicht. Heute gibt es für uns kein größeres Glücksgefühl, als in unserer einen Hauptstadt zu leben und zu arbeiten. 

Dietmar Hinz

 

 

Jubeltag mit Zweifeln

Vom Mauerfall erfuhr ich hier in Mönchengladbach und fühlte dabei, daß sich das Volk mit Erfolg durchgesetzt und somit die heiß herbeigesehnte Freiheit erzwungen hatte. Ich reagierte auf dieses ergreifende Ereignis mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits habe ich mich darüber gefreut, daß die Menschen im Osten es nun endlich geschafft hatten und nicht mehr unter dem gewaltigen Druck standen, eingesperrt zu sein, die schrecklichen Grenzkontrollen verschwunden waren. Andererseits, da ich selbst aus Thüringen komme, fragte ich mich an diesem bedeutungsvollen Jubeltag auch: Was wird sich nun drüben zum Positiven sowie Negativen verändern? Wie reagieren diese Menschen, darunter Freunde, Bekannte, Verwandte von mir? Wie gehen sie mit der gewonnenen Freiheit um? Schaffen sie es, sich schnell umzustellen, anzupassen? Da ich auch zu DDR-Zeiten öfter drüben zu Besuch weilte, zog ich Vergleiche zwischen Ost und West, bemerkte aber auch, wie sich meine Heimat sehr zu ihrem Nachteil veränderte. Drüben war die Zeit wirklich weit zurückgeblieben. Mit dem Mauerfall gingen für mich eigentlich nur wenige Hoffnungen in Erfüllung. Zum einen die schrecklichen Grenzkontrollen fielen weg, zum anderen der erzwungene Zwangsumtausch, den ich in Kunstgewerbegegenständen investierte, und das Versenden der vielen Ostpakete. Vierzig Jahre waren eine sehr lange Zeit für beide Teile Deutschlands. Für mich sind doch noch viele Fragen offen, worüber ich mir jetzt im Alter Gedanken mache. Beim letzten Besuch vor zwei Jahren bei meinen Bekannten hinter Dresden wurde mir aber doch bewußt, daß die Menschen es noch sehr schwer haben, sich mit der Freiheit zu arrangieren, obwohl nunmehr bereits geraume Zeit seit der Wiedervereinigung vergangen ist. Was ist daran zu kompliziert? Hat man zuviel erwartet und ist nun enttäuscht? Aber das Volk im Osten hat es doch längst begriffen, daß die Freiheit auch ihre Schattenseiten hat, womit man vorher nicht gerechnet hat. Schaffen sie es überhaupt noch, vor allem die Jüngeren unter ihnen, sich anzupassen, umzustellen? Das ist gewiß nicht leicht.

Uta Fritzsche

 

 

Alte Wege wieder gehen

Die "Zonengrenze" war eine Grenze mitten durch unsere Familie. Ich etablierte mich wenige Kilometer westlich der Zonengrenze. Beim Mauerfall saßen wir mit Freudentränen vor dem Fernseher: Ich schenkte einer Familie aus Neuruppin, die im Fernsehen zu sehen war, einen Ferienaufenthalt in meiner Ferienwohnung. Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Und am nächsten Sonntag sollte auch die Grenze bei uns in der Nähe zwischen Schöningen und Hötensleben am Sonntag geöffnet werden. Auf dieser Straße waren wir als Kinder mit dem Rad zur Schule nach Schöningen gefahren. Da mußte ich dabeisein und meine Schulfreundin in Hötensleben besuchen. Ich fuhr also mit Auto und eingeladenem Fahrrad nach Schöningen, ließ das Auto dort und fuhr mit dem Rad weiter nach Hötensleben. Menschenmengen gingen hin und her, man traf Bekannte, ehemalige Schulkameraden. Es war ein wunderbares Erlebnis. Meine Freundin traf ich nicht, die war mit dem Rad nach Schöningen gefahren. Die alte Grenze zwischen Braunschweig und Preußen verlief vor Hötensleben am "Fährkrug". Und dort hing ein selbstgemalter Wegweiser. Pfeil nach rechts: "Nach Scheinig", Pfeil nachlinks "Nach Auleben". Scheinig war der plattdeutsche Name für Schöningen und Auleben der Name für Hötensleben an der Aue. Am nächsten Tag berichtete die Zeitung begeistert über die Grenzöffnung und ich las: Nicht nur die Schöninger und die Hötensleber wanderten hin und her, sondern auch die Scheiniger und die Auleber überschritten die Grenze, die nun keine mehr ist. Sie verstanden eben kein Plattdeutsch, die Reporter!

 Annemarie Kirsche

 

 

Deutschland kennenlernen

Die Pressekonferenz von SED-Politbüromitglied Schabowski wurde am 9. November 1989 live vom Rundfunk gesendet, es war wohl der "Deutschlandfunk". Schabowski sprach kurz vor 19 Uhr darüber, daß Privatreisen nach dem Ausland, womit nach bisherigem DDR-Verständnis auch die Bundesrepublik gemeint war, künftig ohne das Vorliegen von Voraussetzungen (in der Regel einem Verwandtschaftsverhältnis) möglich sein sollten. Als ich das im Radio hörte, ging es mir vielleicht wie dem Überbringer der Botschaft selbst, ich habe die Tragweite ihres Inhalts in jenem Moment nicht einschätzen können. Zur Frage, was sich in jenem Augenblick verändert habe, muß ich sagen: noch nichts. Die Hoffnung und die Freude über die Öffnung der Mauer, die setzten erst in den Folgetagen ein. Eine Hoffnung, die in Erfüllung ging: Man brauchte vielleicht künftig nicht mehr nach Prag oder Budapest in die bundesdeutsche Botschaft zu fahren, um im Lesesaal "West"-Zeitungen lesen zu können. Oder: Die über 70jährige Großmutter muß keine Schallplatten mehr in die DDR schmuggeln. Und: Endlich kann man ganz Deutschland und Europa kennenlernen. 

Jürgen Gruhle

 

 

Unvergeßliche Stunden

Im November 1989 befand ich mich in einer Klinik in Bad Driburg. Mit Spannung verfolgten wir Patienten die politischen Ereignisse in der DDR. Ich kann mich entsinnen, den Auftritt des DDR-Regierungssprechers Schabowski im Fernsehen gesehen zu haben, ohne mir viel dabei vorzustellen. Später wurde das TV-Programm geändert: "... wegen der besonderen Ereignisse dieser Nacht unterbrechen wir die Sendung und schalten nach Warschau, wo Bundeskanzler Kohl gerade eine Pressekonferenz gibt". "Unterbrechung des Programms wegen besonderer Ereignisse" - ich konnte mich nicht entsinnen, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Allerdings - was wirklich geschehen war, blieb für mich dunkel. Kohl redete viel und sagte nichts. Enttäuscht schaltete ich ab und schlief ein. Am anderen Morgen fing mich jemand vor dem Speisesaal ab: "Wissen Sie schon, was diese Nacht geschehen ist?" - "Nein!" - " Die Mauer ist gefallen, und die Berliner feiern ihre Wiedervereinigung!" An dem Tage saßen wir Patienten in jeder freien Minute vor dem Bildschirm, der ununterbrochen Live-Bilder aus Berlin zeigte. Für uns wurde klar, dies war nicht nur das Ende der Teilung Berlins, das war die große Stunde, auf die wir als Deutsche so sehr gewartet hatten. Freilich zogen wir auch einen Fehlschluß, wir glaubten nämlich, mit der Deutschen Einheit würde sich in den kommenden Jahren das zweite Deutsche Wirtschaftswunder vollziehen, denn in der DDR war viel zu tun. Ich kann meine Gefühle nicht beschreiben, wie es mir erging, als ich wenige Tage nach dem offiziellen Vollzug auf der Autobahn von Hof kommend die verlassenen Grenzbarrikaden passierte und dort eine große Tafel las: "Nie wieder Deutsche Teilung!"

Manfred Eckstein

 

 

Berliner Taxifahrten

Am 9. November 1989 versah ich meinen Dienst in einer Taxe in West-Berlin. Im Radio hörte ich nichts von Schabowskis legendärer Pressekonferenz. Aber am Telefon (in der damaligen "Vorhandyzeit" kompliziert von einer Fernsprecherzelle aus) erfuhr ich von meiner Mutter in Hamburg, daß irgend etwas bevorstehe. Ich fuhr daraufhin zum Grenzübergang Sonnenallee. Dort kamen gerade die ersten glücklichen Menschen heraus. Ich fuhr vier von ihnen zum Kurfürstendamm - selbstverständlich kostenlos. Später holte ich Kunden grenznah in der Nähe des Anhalter Bahnhofes ab. Sie kamen aus einer Sauna und hatten nichts mitbekommen. Sie wunderten sich über die vielen Leute auf der Straße und glaubten mir meine Erklärung nicht. Ich fuhr nach Hause und weckte meine Frau. Schlafen kann sie noch oft genug, aber diesen Tag gibt es nur einmal! Wir sind dann zur Bornholmer Straße und zu Fuß unkontrolliert durch die Grenze bis zur Schönhauser Allee. Dort sprach uns eine Frau an und lud uns ein. In ihrer Wohnung waren einige Leute und verfolgten alles im Fernsehen. Wir gingen dann mit zwei von ihnen zurück in den Wedding, ebenfalls unkontrolliert, und machten eine Stadtrundfahrt durch den Westen. Da am Schichtende das Taxi in Kreuzberg abzustellen war, fuhren wir aus dem Wedding mit der U-Bahn-Linie 8 unter Ost-Berlin durch die Geisterbahnhöfe. Die beiden Gäste sahen also ihre Halb-Stadt von unten. 

Jens-K. Geißler

 

 

Besucheransturm in Kassel

Der stetig ansteigende Flüchtlingsstrom und der damit einhergehende Machtverfall des SED-Regimes machten mir im Herbst 1989 klar: Die Dinge waren im Fluß, und große Veränderungen kündigten sich an. Allerdings kann ich nicht behaupten, diesen Entwicklungen mit viel Freude entgegengesehen zu haben. Vielmehr lösten sie in mir ein Gefühl der Angst und Unsicherheit aus, weil sich für mich nur schwer abschätzen ließ, was am Ende dabei herauskommen würde. Ich hatte es mir als junger Mensch bequem eingerichtet in den überschaubaren, aber auch statischen Verhältnissen der alten Bundesrepublik. Dann fiel die Grenze. Über Nacht rollte eine Besucherwelle von Tausenden von DDR-Bürgern über die Grenze nach Kassel, die ihren Höhepunkt am Wochenende erreichte. Auf dem Heimweg von der Disko überholten wir zahlreiche Trabbis, ohne zu begreifen, was sich da eigentlich abspielte. Die Innenstadt war am nächsten Tag von Trabbis verstopft. Passenderweise kamen sie fast alle über die Leipziger Straße und den Platz der Deutschen Einheit. Die Stadtverwaltung reagierte schnell und öffnete die Katastrophenschutzbunker für Notschlafplätze, und die Stadtkasse hatte keine Probleme beim Auszahlen des Begrüßungsgeldes. Falschparkern aus der DDR wurden die "Knöllchen" erlassen, und die Feuerwehr half als Trabbi-Werkstatt aus. Lediglich der Einzelhandel gab sich trotz der Bemühungen der Stadtverwaltung schlafmützig und machte im Gegensatz zu den benachbarten Grenzorten kaum Gebrauch von der Ausnahmegenehmigung, am Wochenende länger zu öffnen. Vor dem Rathaus versammelte sich am Samstag eine dichtgedrängte Volksmenge, die diszipliniert, aber fröhlich das freudige Ereignis feierte. Sektflaschen wurden geöffnet, und Kassel, das durch die Teilung jahrzehntelang in seiner Entwicklung gehemmt war, erlebte eine bewegende Euphorie, wie ich sie vorher und nachher nie wieder in meiner Heimatstadt erlebte. Hans Eichel, damals noch Oberbürgermeister von Kassel, hielt eine hervorragende Ansprache, in der er den DDR-Bürgern das alleinige Recht zusprach, über ihre Zukunft zu entscheiden, und seiner Hoffnung auf baldige Gegenbesuche zum Ausdruck brachte. 

Daniel Körtel

 

 

Mit Hammer und Meißel

Auf meinem Schreibtisch liegt ein kleines graues Bruchstück aus Beton: ein Teil der Berliner Mauer; nicht eines von denen, die findige Geschäftemacher nachträglich buntgesprüht und mit "Echtheitszertifikat" versehen haben; nicht eines von denen, die fliegende Händler nach der Wende auf einem der unzähligen Stände um das Brandenburger Tor feilgeboten haben, sondern mein winziger Beitrag zur Überwindung der Teilung; ein Beitrag, wie ihn vor fünfzehn Jahren Tausende leisteten.

Noch im August 1989 durfte ich als 16jähriger erfahren, welch unerträgliche Auswirkungen die Zerstückelung unseres Vaterlandes für uns Deutsche hatte. Von Ostpreußen heimreisend durften wir beim Übertritt nach West-Berlin den vollen Charme der DDR-Grenzer genießen, deren totalitärer Willkür wir ohnmächtig ausgeliefert waren. Am nächsten Tag wußten wir, warum die Büttel so gereizt waren: Hunderte unserer Landsleute hatten die Diktatur herausgefordert und waren über Ungarn in die Freiheit geflüchtet. Statt Hammer und Zirkel regierten bald Hammer und Meißel. Dieses Werkzeug fehlte mir jedoch, als ich kurz nach dem 9. November wieder nach Berlin kam. Ein Geschäftemacher wollte es mir gegen Geld leihen. Ich zögerte; nicht nur, weil ich als Schüler wenig hatte, sondern weil es mir nicht recht erschien, daß aus einer Gemeinschaftsaufgabe ein Geschäft wurde. Der Mann bemerkte das wohl und lieh mir das Werkzeug unentgeltlich aus. Der Stein auf meinem Schreibtisch erhält mir die Hoffnung, daß auch die Mauern, die heute zwischen den Menschen errichtet werden, nicht von Dauer sein werden. 

Thomas Paulwitz

 

 

Angst vor einer Finte

Erst die Fernsehbilder von den jubelnden Menschen, die Gesichter der fassungslosen Grenzsoldaten, dann der Rückschnitt auf das Gestammel Schabowskis. Die ersten aufgeregten Freunde klingelte an der Tür. Dann stand ich selbst in einer öffentlichen Telefonzelle. Privatanschlüsse waren damals selten. Es herrschte kein Zweifel, daß die Berichte wahr waren, aber die ohnmächtige Angst war da: Das ist ein Trick der Kommunisten. Die lassen die Leute ausreisen, um Druck abzubauen. Die wollten die Menschen von der Straße kriegen. Wenn die Massen in den Westen abhauen, dann ist die Revolution aus. Davor hatten wir Angst. Was, wenn keiner mehr zur Montagsdemo kommt, weil alle die Gunst der Stunde nutzten und die weitere Entwicklung im sicheren Westen abwarteten? Zumal der Dresdner SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer - von den Westmedien in Anlehnung an den Namen des sowjetischen Reformers als "Bergatschow" verkannt - täglich an die Bürger der Stadt appellierte, auf Demonstrationszug und anschließende Kundgebung zu verzichten und das Kommende den Vertretern der gewählten "Gruppe der 20" und ihm am Verhandlungstisch zu überlassen. Die Maueröffnung konnte deswegen nur ein mieser Trick der SED sein. Alles andere war unvorstellbar. Überdies fragten wir uns, wie viele Millionen Flüchtlinge verkraftet die Bundesrepublik? Vielleicht wurde gerade dieser menschliche Aderlaß zum Anlaß, die DDR anzuerkennen? Schließlich war Strauß, der vielen als Garant der Nichtanerkennung der DDR galt, tot, und hatte inzwischen nicht selbst die Springer-Presse Monate zuvor auf die Gänsefüßchen verzichtet, mit denen bis dahin der Name DDR versehen war. "Wir bleiben hier", war der Ruf gewesen, mit dem sich die Bürgerbewegung von den Ausreisewilligen abhob. Wir wollten hier verändern, dieses kleines Land, das unser war. Dieses Land wohlgemerkt, nicht den SED-Staat namens DDR. Die Absicherung war, notfalls auf Grundlage des bundesdeutschen Grundgesetzes Asyl beantragen oder über Ungarn flüchten zu können oder freigekauft zu werden. Am jenem 9. November wußte noch niemand, wie es weitergeht. Noch standen starke sowjetische Truppen in der DDR. Würde Moskau sich einfach das letzte Pfand als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges aus der Hand nehmen lassen? Die Öffnung der Mauer war Konterrevolution, befürchteten wir. An diesem Tag war noch nicht daran zu denken, daß einen knappen Monat später der Dissident und Liedermacher Wolf Biermann in Leipzig singen und Helmut Kohl vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden von Zehntausenden jubelnd empfangen sollte: "Helmut, du bis auch unser Kanzler." 

Paul Leonhard

 

 

Auf der Mauer getanzt

Am frühen Abend des 9. November 1989 in Berlin-Staaken besuchte ich eine Uni-Freundin, und wir überlegten, was wir noch machen könnten, bis im Radio durchgegeben wurde, daß sich auf der Westseite vor dem Brandenburger Tor eine große Menschenmenge gebildet hatte, die gegen die Mauer protestierte. Trotz all der erstaunlichen Dinge, die sich in den letzten Wochen zugetragen hatten, empfand ich die Forderung eher als die Kundgebung eines Unwillen, so, als würde man gegen das Rauchen demonstrieren. In diesem Sinne und aber auch in Ermangelung einer besseren Idee machten wir uns daher auf den Weg zum Brandenburger Tor. Ich erinnere mich nicht mehr, welchen Weg wir fuhren, ob mit dem Bus oder der Bahn, oder auch nur an ein einziges Thema, das wir während der Fahrt besprachen. Aber das Bild der Menschen, die vor dem Brandenburger Tor auf der Mauer standen, gehört zu meinen wohlbehütetsten und gleichermaßen traumatischsten. Mir war sofort klar, daß auch ich auf die Mauer gehörte. Zum ersten und bislang letzten Mal spürte ich unmittelbar Geschichte, meine eigene zumal. Und so arbeitete ich mich durch die Staunenden bis zur Mauer vor, nur um feststellen zu müssen, daß sie doch um einiges höher war, als ich es in Erinnerung hatte. Selbst mit ausgestreckten Armen erreichte ich nicht einmal annähernd die obere Kante. Außerdem war es auf der Mauer schon recht voll und ich vermutete, daß die dort oben mich nicht mehr herauflassen würden. In diesem Augenblick reckten sich mir ein halbes Dutzend Arme entgegen, die mich wie in einem Expreßlift hochhievten. Was gibt es Atemberaubenderes, als vor dem Brandenburger Tor auf der Mauer zu stehen? Von der Mauer wieder herunterzuspringen - in Richtung Brandenburger Tor! Während ich weiterhin mit dem Problem kämpfte, mich an die Geschwindigkeit zu gewöhnen, mit der die Grundfesten meiner Welt zusammenbrachen, hatten einige weniger umständliche Zeitgenossen beschlossen, einen visums- und zwangsumtauschfreien Abstecher in die DDR zu machen. Von den Millionen, die auf diese Stadt schauten, standen Tausende hier vor der Mauer und bejubelten Hunderte, die auf ihr tanzten und mit allem möglichen Gerät auf sie einschlugen. 

Norbert Klink

 

 

Im Wartburg in den Westen

Am Abend des 9. November war ich, Student nach 18 Monaten NVA-Dienst, im Kino "Tivoli" in Pankow gewesen. Nach dem Film fuhr ich ins Studentenwohnheim und rief vom Fernsprecher unten im Keller aus irgendeinem Grund meine Mutter an. Sie erzählte mir, daß die Mauer offen sei. Ich nahm diesen Hinweis überhaupt nicht wahr. Erst am nächsten Morgen begriff ich einigermaßen, was geschehen war, und besuchte dennoch brav zwei Lehrveranstaltungen. Mit einem Mitstudenten begab ich mich danach sofort zum Grenzübergang Checkpoint Charlie. Es standen dort viele Fußgänger in der Schlange, die auch hinüber wollten. Ein Wartburgfahrer in der Autoschlange nahm uns auf unsere Frage mit "rüber", es ging wirklich so viel schneller. "Drüben" standen dann West-Berliner, haben auf den Wartburg geklopft und uns begrüßt. Einer sagte: "Alle freuen sich, daß Ihr da seid". Das Auto wurde abgestellt, und mein Begleiter und ich gelangten in Richtung Reichstag. Auf dem Weg dahin sah ich zum ersten Mal Türkinnen mit Kopftuch. Am Reichstag sahen wir viele Leute auf der Mauer. 

Kay Hernmarck

 

 

Emotionslos

Ich hatte mich bis zum 9. November so an einiges gewöhnt, so daß mich die Ereignisse irgendwie nicht wirklich erreichten, als ich am Abend um 19 Uhr den berühmten Satz von Schabowski live miterlebte. Aber es floß eigentümlich unbemerkt an uns vorbei, der Fernseher lief weiter wie gewohnt. In der Tagesschau kam alles noch einmal, und sogar als um 21 Uhr herum die ersten Reporter von der Invalidenstraße zu berichten begannen, hatte ich immer noch nicht realisiert, was nun eigentlich genau passiert war. So fand ich mich auf einmal - es war schon weit nach Mitternacht - am Fenster stehend wieder und blickte nach draußen auf die Straße hinunter. Damals wohnte ich in der Hasenheide, einer Hauptverkehrsstraße, auf der nachts um diese Zeit nur noch Taxen entlangfuhren. Aber die waren auf einmal verschwunden, keine gelben Leuchten mehr, statt dessen nur noch Trabbis, Ladas, Fiats. Es mußte wohl doch was passiert sein, nur es kam nicht "an". 

Holger Hanel

 

 

Grenzveränderung war tabu

Es ist alles so unglaublich schnell gegangen. Im März 1989 noch war ich mit meiner 10. Klasse eine Woche lang in Berlin. Dort hatte sich scheinbar nichts geändert. Als wir in den Osten hinüberfuhren, waren die Kontrollen so schikanös, die Stimmung so gedrückt, daß eine besonders sensible Schülerin in der Warteschlange vor dem Sektorenübergang einen Schwächeanfall erlitt. Als wir spätabends die ersten Schritte im Westen taten, atmeten alle erleichtert durch. Und Anfang September ein Treffen der "Kulturinitiative", eines überbündischen Kreises, auf Burg Balduinstein: Führer und Ältere aus Pfadfinder- und Wandervogelbünden. Man gab sich offen und tolerant gegenüber allen möglichen Randgruppen. Nur "rechte" Gruppen sollten nicht geduldet werden. Wer Grenzen verändern wollte, durfte nicht dazugehören. - Und zwei Monate später: Freitag, der 10. November: In der zweiten Stunde, Latein 10, aufgeregtes Gemurmel bei den Jungen - aber das muß ein Gerücht sein -, die Mauer sei über Nacht gefallen. In der Pause höre ich Radio: Die DDR hat wirklich ihre Grenzen geöffnet; West-Berliner haben zu Hunderten die Mauer erklettert, ohne daß die Volkspolizei eingreift; an den Übergängen schieben sich Tausende nach Westen, werden jubelnd empfangen. Volksfest, Volkes Fest! Es ist alles so unglaublich, kaum vorstellbar. Der Eiserne Vorhang ist hochgerasselt. Wer hätte das noch vor wenigen Wochen glauben können ? Ob nun die Wiedervereinigung möglich ist? Möglich gewiß, aber unsere Politiker ... 11.11.: Ich fahre zum Treffen der Sababurgrunde. Während der kurzen Fahrt in den Reinhardswald begegne ich mehrfach Trabbis aus der DDR. Das Radio meldet, Hunderttausende überquerten die Grenze, die meisten völlig spontan und ohne die Absicht, im Westen zu bleiben. Und an den Übergängen stehen Scharen Westdeutscher, die winken und jubeln. Und diese ganze, seit Wochen sich erst langsam steigernde, nun auf einmal sich überstürzende Entwicklung war und ist ganz gewaltlos, ohne Rache und Vergeltung. Die Deutsche Revolution des 9. November l989 ! 12.11.: ... Ein sehr guter Vortrag eines Mainzer Studenten. Der ist gestern mit seiner Pfadfindergruppe spontan an die Grenze gefahren und hat gesamtdeutsche Flugblätter verteilt. Und ein Reporter des Zweiten Deutschen Fernsehens erzählt uns, er habe an der Grenze Dutzende von Interviews mit Mitteldeutschen geführt, etwa 90 Prozent hätten die Wiedervereinigung gewünscht. Aber in der Sendung wurden dann überwiegend die negativen Äußerungen gebracht. Sonntag, der 19.11.: In Mitteldeutschland entwickeln sich die Dinge unaufhaltsam weiter. Heute kommen drei Millionen Besucher von drüben. In unseren westdeutschen Parteien aber rührt sich kaum eine Stimme für die Wiedervereinigung. Das ist schon fast Verrat! 

Frank-Dietrich Pölert

 

 

Erlebnis am Fernseher

Die Entmachtung der DDR-Gewalt und ihres "antifaschistischen Schutzwalls" am 9. November 1989 habe ich am Fernseher erlebt. Ströme von DDR-Autos durchfuhren frei die sonst so schreckenden Grenzanlagen Richtung Westen, standen in Spalieren von Bundesdeutschen, die die Ankommenden unter unbeschreiblichem Jubel empfingen und bewirteten. Ganz Berlin schien aufgebrochen zu sein, tummelte sich zumal am Brandenburger Tor; die Mauer dort war erklommen und besetzt, schwarz-rot-goldene BRD-Fahnen wehten. Überwältigend! Tränen der Erlösung! "Einigkeit und Recht und Freiheit!" "Deutsches Vaterland!" Doch ohne ein zweites, kontrastives Fernseherlebnis und dessen Wirkung wäre mein Damals nur halb berichtet. Nach einer Massenveranstaltung im Dunkeln vor Berlins Schöneberger Rathaus wurde die Nationalhymne gesungen. Im Scheinwerferlicht standen Kohl/Genscher/Brandt nebeneinander auf dem Balkon. Trotz Mikrophon und krampfhaftem Nachdruck vermochten sie mit dem nationalen Volksteil kaum gegen das ohrenbetäubende Pfeifkonzert der Antinationalen anzusingen. 

Hermann Biermann

 

 

Als Mauerspecht aktiv

Der 9. November 1989, für uns das Ende eines 40jährigen Traumas und für die Welt schon fast in Vergessenheit geraten, endete hier die Vierteilung Deutschlands als Folge des Zweiten Weltkrieges. Ich selbst habe den Mauerfall vor Ort in Berlin erlebt, zuerst durch Radionachrichten, dann im Fernsehen und schließlich direkt am Schandmal Deutschlands, wo ich selbst mit dem Hammer in der Hand kleine, aber für mich symbolisch große Löcher in die Mauer hieb, zusammen mit meiner Familie. Am 9. November 1989 konnten wir aufatmen und an die Zukunft Deutschlands neu glauben, bestand doch bis zu diesem Zeitpunkt die Aussicht, auf unsere Landsleute im jeweils anderen Teil Deutschlands schießen zu müssen, mit denen uns mehr noch als alles Trennende der politischen Blöcke die Blutsverwandschaft verbindet, ganz zu schweigen vom gemeinsamen kulturellem Erbe der Geschichte, das über die Tagespolitik hinaus Bestand hat.

Hans-Joachim Sbongk

 

 

Unaussprechliches Glück

Als am 9. November 1989 die Mauer aufbrach und einander völlig unbekannte Menschen glücksberauscht sich in die Arme fielen, hatte ein überwältigendes Gemeinschaftsgefühl die Nation erfaßt! Heute mag das allerorten fast wie eine Nationalhymne gesungene "So ein Tag, so wunderschön wie heute ..." als unbeholfener, ja gar kitschiger Ausdruck dieses Gefühls belächelt werden: Damals äußerte sich darin das unaussprechliche Glück, das alle Herzen überströmte und sie miteinander verband. Als lächerlich und tieferer Gefühle unfähig erwies sich einzig Schily, als er im Parlament mit seiner Banane herumfuchtelte.

Hans Gert Kessler

 

 

Es fiel kein Schuß

Ich konnte es nicht glauben, viel weniger denn fassen. Träumte ich? Konnte, das, was ich sah Wirklichkeit sein oder war ich nur im falschen Film unter der Regie einer überbordenden Phantasie, mit dem Wunsch als Vater des Gedanken? Aber auch wenn ich meinen Augen kaum traute, da tat sich etwas unglaubliches: die Mauer, dieses Schandmal der Unmenschlichkeit, öffnete sich nach so langer Zeit. Immer mehr Menschen drängten durch die Lücke, kletterten von Beiden Seiten auf die Mauer, umarmten sich, tanzten in einem unbeschreiblichen Freudentaumel - und es fiel kein Schuß, nur ungläubige, ratlose Gesichter bei den ehemaligen Bewachern. Sonst eher sparsam mit dem Medium Fernsehen, war schon wochenlang nicht mehr wegzubringen vom Bildschirm als es um die Geschehnisse im Vorfeld ging, Montagsdemonstrationen, Mahnwachen, Appelle von mutigen Persönlichkeiten wie Kurt Masur, Tausende Menschen mit Kerzen in den Händen, friedlich - bewegende Bilder. Mir hallen noch die Schlagworte der Sprechchöre im Ohr: "Wir sind das Volk!" oder "Deutschland einig Vaterland". Wann hatte man so etwas im "Westen" je gehört? 

Manfred Söcknik

 

 

Dankbar für die Einheit

Am 9. November 1989 saß ich abends vor dem Fernseher und sah mir bis tief in die Nacht fasziniert die Bilder an. Schon immer war mir klar gewesen, daß Unrecht nicht ewig währen kann, selbst wenn eine Mehrheit es scheinbar duldet oder gar akzeptiert. Und Mauern, ob in Form von Bauwerken oder in Form von geistigen Hindernissen, werden früher oder später immer fallen! So war ich froh über den Fall dieser uns so nahen Mauer. Damals konnte ich mir kaum vorstellen, daß in unserer Heimat Deutschland eine neue Mauer gegenüber Muslimen aufgebaut werden würde, dieses Mal nicht als Bauwerk, sondern in den Köpfen der Menschen mit dem Beton der Verleumdung und dem Mörtel der Druckfarbe. Ich bin nach wie vor sehr dankbar über die deutsche Einheit. Und gemeinsam können wir aus dem Mauerfall lernen, daß diejenigen, die Mauern bauen, zu ächten und die Mauern abzureißen sind!

Yavuz Özoguz

 

 

Die Tränen rollten

Am späten Nachmittag des 9. November 1989 war ich auf dem Weg zur Katharinengemeinde in Blankenburg. Die Bürgerrechtsbewegung "Neues Forum" war in unserer Kleinstadt am Harz noch recht jung. Ich sollte an diesem Abend die öffentliche Diskussion leiten. Es war noch Aufbauarbeit zu verrichten, und so standen Themen wie Finanzierung und Strukturen auf der Tagesordnung. Nach etwa 90 Minuten war die Versammlung beendet, und ich machte mich auf den Weg nach Hause. Mir fielen einige Pkw auf, die von ihren Eigentümern beladen wurden. Ich machte mir darüber jedoch keine weiteren Gedanken. In den Spätnachrichten erfuhr ich dann von der folgenschweren Antwort des Herrn Schabowski auf die Frage des Journalisten zur Reisefreiheit für DDR-Bürger im Rahmen einer Pressekonferenz. Ich konnte es einfach nicht fassen. Sollte wirklich ein auch für mich großer Traum in Erfüllung gegangen sein? Die Fernsehbilder von den Grenzübergängen bestätigten: Es war Realität. Nun passierte folgendes - und hätte mir das früher jemand geweissagt, ich hätte ihn ausgelacht: Die Chance bestand, und ich fuhr nicht gen Westen. Warum? Ich hatte ab dem 9. November 1989 Bereitschaftsdienst in der Kureinrichtung Blankenburgs, in der ich als Elektromeister tätig war. War dieses Verhalten "typisch deutsch"? Erst am nachfolgenden Sonnabend um 4.15 Uhr rollten meine Familie und ich mit unserem Wartburg über die innerdeutsche Trennlinie in der Nähe des Dorfes Hessen bei Halberstadt. Genau in diesem Moment konnte ich mich nicht mehr beherrschen, und nun rollten meine Tränen. Ein Traum war Wirklichkeit geworden. Ich fuhr über den Westharz nach Göttingen. Freunde hatten uns eingeladen, und wir verlebten ein wunderschönes Wochenende in Göttingen. Unsere Freunde hatten wir zwei Jahre vorher über eine Ballonpost der Kinder kennengelernt. Das waren Tage, die ich nie vergessen werde. 

Ronald Falk

 

 

Am Übergang Sonnenallee

Am Abend des 9. Novembers schaltete ich kurz nach 22 Uhr den Fernseher ein. Ich war wie elektrisiert, als im Studio des SFB zwei junge Leute aus Ost-Berlin interviewt wurden und sagten, daß sie über einen Übergang - ich glaube, es war die Bornholmer Straße - in den Westteil der Stadt gekommen waren. Daraufhin fuhr ich mit meinem Auto zum Übergang Sonnenallee in Berlin-Neukölln, in dessen Nähe ich damals wohnte. Auf der ab Kreuzung Grenzallee sonst ruhigen Sonnenallee war heute mehr Leben. Ich konnte gar nicht glauben, was ich sah, mir kamen auf der Gegenfahrbahn Trabbis und Wartburgs entgegen. Meine Anspannung steigerte sich ins Unermeßliche. Ich parkte mein Auto und machte mich zu Fuß auf den Weg. Am Übergang hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Bereits aus der Ferne bot sich mir ein unvergeßlicher Anblick. Die Silhouetten von Menschen, die auf der dort ein bis zwei Meter dicken Mauerkrone standen, hob sich vor dem taghell erleuchteten Übergang deutlich ab. Vor dem eigentlichem Übergang standen viele Menschen und bildeten für die aus dem Ostsektor der Stadt Kommenden eine Gasse. Auf jedes herüberkommende Auto wurde mit der flachen Hand geschlagen, und sie wurden mit Händeklatschen empfangen. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen. Einige Vopos standen wie teilnahmslos daneben. Ein ganz besonderes Erlebnis hat sich mir unvergeßlich eingeprägt. Ein junger West-Berliner stand kurz nach dem Fußgängerdurchgang und fotografierte mit einer Polaroidkamera ein junges Pärchen aus Ost-Berlin. Das Bild, das aus der Kamera kam, übergab er dem jungen Mann. Auf dessen Frage, was er bekomme, antwortete er "Nichts" und wandte sich dem nächsten Ankommenden mit seiner Kamera zu. In der Hoffnung, daß nun mit Deutschland alles gut werden würde, machte ich mich nach vier Uhr früh auf den Heimweg. In den letzten Stunden hatte ich ein geschichtliches Ereignis miterlebt, das ich für Deutschland erstrebenswert, aber für unmöglich gehalten hatte: den Fall der Berliner Mauer. 

Siegfried Winke

 

 

Freudige Verwandtschaft

Am 9. November des schicksalhaften Jahres 1989 war es gerade einmal sieben Jahre her, als ich das Licht dieser Welt erblickte. Damals wußte ich dieses weitreichende und für unser Heimatland so bedeutungsvolle Ereignis noch nicht in seiner historischen, politischen bzw. gesellschaftlichen Tragweite einzuschätzen, doch ich bemerkte an den freudigen und zutiefst emotionalen Reaktionen meiner vor dem Fernseher versammelten Verwandtschaft ein Gefühl von wahrhafter Zusammengehörigkeit, Liebe und sogar Stolz. Ich konnte damals noch nichts über die bei der Wende verpaßte Chance zur Wiedergutmachung begangenen Unrechts an den ehemals in der sowjetischen Besatzungszone Enteigneten oder den mit ihr verbundenen endgültigen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete wissen, aber ich spürte schon damals die unglaubliche Faszination des Augenblickes und habe bis heute die Fernsehbilder von freudestrahlenden, ergriffenen und feiernden Menschen vor meinen Augen. 

Sebastian Pella

 

 

Vor Glück geweint

Die deutsche Teilung habe ich lange als unnatürlich und schmerzhaft empfunden. Meine Mutter überquerte 1951 mit meinem Bruder als Baby und einem Kinderwagen die Zonengrenze. Sie konnte ihre Heimat im Zonenrandgebiet jahrzehntelang nicht mehr besuchen. Nur von einer Bank aus im Westharz konnten die Flüchtlinge dorthin schauen. Ein Jahr später besuchte meine Großmutter sie im Westen und wurde auf dem Rückweg von den sowjetischen Besatzern festgenommen. Im Gefangenenkeller stand an die Wand geschrieben: "Ich bin ein Deutscher und wurde gefangen, weil ich bin von Deutschland nach Deutschland gegangen." Doch die deutsche Teilung war in den 1980er Jahren kein landläufiges Gesprächsthema. Ich konnte mich nicht damit abfinden. Mit 17 Jahren beeindruckte mich "Die deutsche Einheit kommt bestimmt" von Wolfgang Venohr sehr. Damals trafen sich jeweils vier evangelische Studentengemeinden in Ostberlin, aus jeder Besatzungszone eine Gemeinde. Darüber hatte ich viele Freunde in der DDR, die mich allerdings nie besuchen konnten. Ich erfuhr, daß es in Berlin bei der Alternativen Liste einen Arbeitskreis Berlin- und Deutschlandpolitik gab, der sich mit der deutschen Teilung befaßte, und wechselte nach Berlin, um dort mitzuarbeiten. Von den Ereignissen des 9. November 1989 erfuhr ich in Köln mitten im 1. Juristischen Staatsexamen nur durch die Zeitung. Zeit zum Jubeln war später: am Vorabend des 3. Oktober 1990. Es gibt nicht viele Momente, in denen man vor Glück weint. Mitternacht am 2./3. Oktober 1990 war ein solcher. 

Martina Kempf

 

 

Alles auf den Kopf gestellt

Seit dem 9. November 1989 wird alles, was 45 Jahre lang Gültigkeit hatte, auf den Kopf gestellt. Etwas, was niemand vorhergesehen hat, trat ein: Ein 16-Millionen-Volk steht auf, nimmt sein Schicksal selbst in die Hand, löst politische Ereignisse aus, die einer Lawine gleich eine unkontrollierte Dynamik erreichen, die alles, was sich ihr an politische Überlegung, menschlicher Vernunft oder zurückhaltender Besonnenheit entgegenstellt, hinwegfegt, unter sich begräbt und am Ende, hoffentlich, ein geeintes Deutschland hervorbringen wird. Es ist, das zeigt die Realität, augenblicklich schon überholt, daß "jetzt zusammenwächst, was zusammengehört". Es wird nicht zusammenwachsen, wenn man darunter einen aufeinander abgestimmten Vorgang, harmonisch und ausgeglichen, versteht. 

Peter Jackl

 

 

Nachricht in Paris

Mein Beruf als Ingenieur brachte es mit sich, daß ich internationale Normen mitgestalten konnte. Diese Normungsgremien tagten oft in Paris, eine Sitzung wurde dort für den 10. November 1989 angesetzt. Ich war mit dem Zug am 9. November nach Paris gefahren und hatte diesmal ein Zimmer ohne Fernseher in einem Hotel in der Nähe des Gare de Lyon. Ich wußte folglich nicht, welcher historischer Umbruch sich noch am Abend des 9. November in Berlin ereignet hatte. Zu Beginn der Sitzungen begrüßte man sich herzlich, denn wir kannten uns alle schon seit Jahren. Diesmal war alles anders: Der französische Kollege sagte als erstes auf französisch: "Die Mauer ist gefallen." Die Worte an sich hatte ich wohl verstanden, aber den Sinn des Satzes konnte ich nicht einordnen, denn die Realität, daß die Berliner Mauer gefallen sei, war für mich so ungeheuerlich, daß ich ein sprachliches Mißverständnis vermutete. So fragte ich: "Welche Mauer?" Und er antwortete: "Na, die Berliner." Obwohl ich durch meine internationale Tätigkeit auch die Verhältnisse in der DDR sehr gut kannte, war diese Aussage für mich unfaßbar. Beim Mittagessen wurde dieses politische Ereignis ausgiebig diskutiert, und ich merkte die Angst der Franzosen vor einem großen Deutschland. Ich gab mir Mühe, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. 

Udo Knau

 

 

Wie im Traum

Es war ein Freitag. Ich hatte das große Glück, an diesem Tage in der S-Bahn, am Brennpunkt der Welten, zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof, wo ich aussteigen mußte, zu sein, da ich zur Arbeit fuhr. In diesen wenigen Minuten erlebte ich mein größtes politisches Ereignis. Fremde Menschen lagen sich in den Armen, weinten, lachten, viele Geldscheine flogen über die Köpfe. Ich war den ganzen Tag arbeitsunfähig und dachte manchmal: Ich träume.

Margot Schulz

 

 

Resignation in der DDR gespürt

Den Vorgang des Mauerfalles am 9. November 1989 in Berlin habe ich im Westen unseres Vaterlandes mit großer Anteilnahme und Freude verfolgt. Das Schicksal unserer Landsleute in der damaligen SBZ hat mich immer sehr beschäftigt, und so habe ich dann mit Gleichgesinnten während meines Studiums an der TH Braunschweig einen "Ost-West-Ausschuß" ab 1955 mitbegründet. So haben wir Briefkontakte zu Studenten in Jena und in Magdeburg gehalten, haben Studenten zu uns eingeladen, haben Veranstaltungen an der Zonengrenze abgehalten, damals schon von den "Progressiven" als Spinner bzw. als Ewiggestrige und Reaktionäre verleumdet. Ich selbst bin im März 1989 mit meiner Frau zu Verwandten von ihr in die damalige DDR gereist und hatte Gelegenheit, mit den Menschen im vertraulichen Kreis offen zu sprechen. Bei unseren Fahrten bis nach Rostock, Schwerin und Wismar fiel uns auf, daß in vielen Kirchen Versammlungen stattfanden, die nicht nur kirchliche Themen zum Inhalt hatten. Wenn die Menschen dort sich unserer Vertrauenswürdigkeit vergewissert hatten, brach aus ihnen der ganze Unmut und die Verzweiflung heraus. Wir konnten erkennen, daß sich eine große Unruhe und Wut im Volke zusammenbraute, die von unseren Politikern und Nachrichtendiensten nicht wahrgenommen wurde. Der Zustand der Industrie im damaligen Bezirk Potsdam war jammervoll. Überall waren Niedergang und Resignation erkennbar. Für uns war nach dieser Reise spürbar, daß die DDR kurz vor dem Kollaps stand.

Sieghart von Watzdorf

 

 

Widerstände im Westen

November 1989, Mauerfall. Wortlose Blicke in den Fernseher, weder erstaunt noch jubilierend. Nahe der Bankentürme des Rhein-Main-Gebiets waren Grenzwälle fern. "Was hatte die Mauer schon mit unserem Leben zu tun?" meinten viele Bekannte skeptisch. Überraschung beschlich mich keine. Der Mauerfall war doch nur der vorläufige Endpunkt einer langen Kette von Ereignissen. Alles hatte sich irgendwie angekündigt durch "Glas-nost", die Flüchtlinge in Ungarn, die Demos in der DDR, den Sturz Honeckers, der 1989 fabuliert hatte, daß der "antiimperialistische Schutzwall noch 50 oder 100 Jahre bestehen" werde. "Wer weiß", meinte ich schon ein Jahr zuvor prophetisch zu einem Freund, "ob diese Gorbatschow-Sache nicht in der deutschen Wiedervereinigung endet". Und ich erntete Kopfschütteln. Kein Wunder, hatten uns in den Achtzigern doch alle eingeredet, daß sich nie etwas ändern würde - Politiker, die 68er-Schullehrer, "Friedensbewegte", Fernseh- und Zeitungskommentatoren. Ein bißchen mehr persönliche Freiheit hier, etwas Grenzverkehr dort. Damit habe sich Deutschland zufriedenzugeben, war Tenor der West-Elite. Der Mauerfall brachte Unruhe, nicht Beruhigung. Enige redeten von Chancen für eine "demokratische DDR", andere formierten sich "Wider Vereinigung", in mir stieg bange Wut auf. Am 9. November blickte ich still in den Fernseher, sah die Massen am Brandenburger Tor, fühlte das Beben und wußte doch, daß es nur der Anfang war. Tage später hatten erste Trabbis Frankfurts Straßen erreicht. Erst ein Jahr später, am 3. Oktober, konnte ich jene Sylvesterraketen abschießen, die ich damals aufgespart hatte. 

Claus-M. Wolfschlag

 

 

Brennende Mauern

Vor nunmehr 35 Jahren kam ich nach all den Jahren in kommunistischen Kerkern in die ummauerte Frontstadt, weil ich in der großen Konfrontation in der vordersten Kampflinie stehen wollte. Die Mauer war daher ein fester Bestandteil meines zeitgeschichtlichen Bewußtseins geworden und ihr Fall damals vor fünfzehn Jahren wurde folgerichtig zu einem Wendepunkt meines Lebens. Wie bedeutend dieser Augenblick war, kann man aus den Zeilen erahnen, die ich wenige Wochen zuvor eines Abends in unmittelbarer Nachbarschaft der Mauer in einer Kreuzberger Kneipe auf die mit weißem Papier bedeckte Tischplatte geschrieben hatte: "Ich stehe vereinsamt im logischen Raum./Wer traut sich zu denken das Undenkbare?/ Anmutig schweben sie heran, die Todesengel./Kein Kinderchor erklingt, kein Harfenschlag/Weit weg, zu Sonnenaufgang, die Krippe der Engel./Düster ihr Reigen. Ihr Kuß versengt auch Stein./Lodernde Steine der Mauer. Der Mauern./Zusammen verbrennen Deutsche und Juden./Der Tod ist ein Engel, ein Meister aus Osten./Ich schaue das Unschaubare und frage/ Wie lange noch, Herr, und wie oft?/Herr, rette mich vor meinem Unglauben./Glauben will ich: Steige herab, Herr,/ Lösche die brennende Mauer./ Lösche die brennenden Menschen./Warte nicht auf Gehorsam und Glauben./Steige herab, Herr, und treibe/Die wilden Winde wieder/Der aufsteigenden Sonne zu." 

Ivan Denes


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