© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/04 29. Oktober 2004

Ein Intendant aus Tantalus' Geschlecht
Der Schriftsteller Christoph Hein soll das Deutsche Theater zu dem deutschen Nationaltheater machen
Jens Knorr

Es wird sich leicht erraten lassen, daß die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwärtigen Blattes ist." Zumindest war sie einigen kleindeutschen Großfeuilletonisten Veranlassung, sich mit Bedeutung und Aufgaben des Deutschen Theaters in der Berliner Schumannstraße, des DT, zu befassen wie lange nicht mehr. Wann eigentlich hatte sich das DT solche Aufmerksamkeit zuletzt verdient?

Das war, als Einar Schleef durch Nietzsche und Friedrich Nietzsche durch Schleef ihre Wahrheiten gleich Brandfackeln gegen die irritierten, empörten, begeisterten Zuschauer schleuderten, währenddessen draußen ein Gewitterregen niederging und endlich ein Blitzschlag die Lichtanlage des Hauses kurzzeitig verrückt spielen ließ und Schleef aufblickte zu Ihm, dem gerade eben Totgesagten, oder vielleicht auch nur in den Schnürboden. Man hätte Pferden um den Hals fallen mögen!

Die Sternstunde, die sich an diesem 29. Mai 2000 ereignete, war die letzte Premiere der Ära Langhoff, den mit der Verpflichtung des Dichters und Regisseurs Einar Schleef zuletzt ein künstlerischer Wagemut überkommen hatte, der ihm während der neunziger Jahre zunehmend abgegangen war und dessen er doch dringend bedurft hätte, das Haus geistig zu erneuern. Wie lange, wie seit den späten Arbeiten Heiner Müllers am Hause nicht mehr, war das Deutsche Theater für fünf Stunden deutsches Nationaltheater, schossen deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Augenblick zusammen, schritten die Großen ihres Fachs, die Keller, die Hoffmann, die Bendokat, die Hoss, den ganzen Kreis der Schöpfung aus, standen Wort gegen Wort Milton, Nietzsche, Dwinger, Döblin, Denker gegen Volk, Volk gegen Führer und Volk gegen Volk: Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk. Nie war das DT näher an seiner Rettung als führende deutsche Schauspielbühne als an jenem Abend.

Die Rettung jedoch hat Thomas Langhoffs Nachfolger, der noch von Kultursenator Peter Radunski (CDU), dem "Zigeunerbaron", installierte Bernd Wilms, ein ums andere Mal verspielt. Seit 2001 führt Wilms das Deutsche Theater, wie er bereits das Maxim-Gorki-Theater Berlin geführt hat: wie ein beliebiges westdeutsches Stadttheater, taub gegen die Traditionen des Hauses, die begründeten und die zu begründenden. Hauptsache, der Laden brummt - das wenigstens ist nicht von vornherein verwerflich.

PDS-Senator Flierl ignoriert ungeschriebene Gesetze

Damit der Laden brummt, bietet Filialleiter Wilms karstädtisches Gemischtwaren-Sortiment, sowohl was das Repertoire als auch Besetzungen und Inszenatoren betrifft, kauft Namen zusammen, die Rendite versprechen, jedoch kaum einmal produktiv zusammenkommen.

Denn viele gute Schauspieler ergeben noch kein Ensemble, viele gute Stücke - darunter einige Klassikverschnitte für den kurzen Hunger zwischendurch - noch kein Repertoire, ein widersinniger Podestüberbau in den Kammerspielen keine neue Sicht auf das Drama. Und der Einfall, die Fotografien der großen Schauspieler des Hauses abzuhängen - die "Ahnengalerie", Stolz eines jeden Theaters, das auf sich hält -, der Einfall zeugt von keinem neuen Geist in altem Gemäuer, sondern von überhaupt keinem Geist.

Ist das Deutsche Theater allein schon deshalb ein gut bestelltes Haus, weil es beim Publikum höchst erfolgreich ist und imposante Zahlen aufweist? Hat es wirklich ein Ensemble, um das es andere Theater beneiden? Redet es der Berliner Kultursenator gar öffentlich schlecht, weil er lediglich eine Personalentscheidung rechtfertigen will, wie der wütende Wilms in einem offenen Brief unterstellt? Zurückgefragt: Ist der 2006 in Rente gehende Intendant wirklich so betriebsblind, daß er allen Ernstes glaubt, keine Havarie zu vermelden zu haben?

Der Berliner Kultursenator heißt Thomas Flierl, hat eine DDR-Vergangenheit, wird ausgerechnet von der mitregierenden PDS gestellt und - weiß, wovon er redet, wenn er über Kulturpolitik im allgemeinen und Theaterpolitik im besonderen redet. Dieser Exot unter deutschen Kulturpolitikern entwickelt neuerdings nicht nur kulturpolitische Perspektiven für die infolge des Bankenskandals finanziell ruinierte Stadt, obendrein versucht er seine Konzepte auch noch zu verwirklichen, zumindest in jenen Bereichen, auf die Berliner Kulturpolitik Einfluß nehmen kann. Flierl ignoriert souverän die ungeschriebenen Gesetze altbundesrepublikanischer Intendantenkarusselle und ihrer Kassierkräfte und kappt ihren Strippenziehern die Strippen.

Der Intendant des Deutschen Theaters ab 2006 wird keiner der wiederkehrenden Immergleichen sein, und er wird auch nicht aus der jetzigen Leitung des Hauses kommen, wie Wilms es wohl gern gehabt hätte. Der Intendant ist der Schriftsteller Christoph Hein, ein Intellektueller, der weder der 68er noch den Generationen Pop, Golf und wie sie alle heißen, zugehört. Hein war Regieassistent bei Benno Besson, später Dramaturg an der Volksbühne, vor allem aber gesamtdeutscher Schriftsteller lange schon vor dem Ende der DDR, und er ist nicht nur Romancier und Essayist, sondern auch Dramatiker und Stückbearbeiter.

Kann der überhaupt ein Theater leiten? Im Gegensatz zu anderen deutschen Intendanten hat er jedenfalls noch nicht bewiesen, daß er es nicht kann. Darf Hein überhaupt ein Theater, darf er das Deutsche Theater leiten? Er wird wohl müssen, auch ohne vorher die Erlaubnis von Theaterkritikern eingeholt zu haben, die gerne den Ton angeben würden, wenn sie ihn denn träfen. Er wird können müssen! Er wird viel zerstören müssen, um es zu erhalten. Er wird den Namen des Theaters, das für diese Spielzeit "Deutsche Stoffe" plakatiert - als verstünde sich das für ein Deutsches Theater nicht von selbst -, beim Wort nehmen müssen, um die Bühne wieder zu dem führenden deutschen Sprechtheater zu machen. Er wird sich mit einem anderen Wort auseinandersetzen müssen, das keiner gesagt haben will, und wenn, dann nicht zu laut - dem Wort von einem Deutschen Nationaltheater.

Orientierung an nationalen und europäischen Maßstäben

Zurück zum Theater der DDR? Wenn das heißt, an die großen Aufführungen des Hauses anzuschließen, eingeschlossen vierzig Jahre DDR, dann lautet die Antwort: Ja!

Vorwärts zu einem Deutschen Nationaltheater? Wenn das heißt, an die große, über hundertjährige Tradition des Hauses anzuschließen, in der Schumannstraße wieder Welttheater zu machen, das sich an nationalen wie europäischen Maßstäben orientiert, dann lautet die Antwort gleichfalls: Ja!

Wenn das aber beide Male hieße, einfach da weiterzumachen, wo in den letzten Jahren der Intendanz Langhoff und in den Jahren der Intendanz Wilms mittel- und westdeutsche Provinz Wiedervereinigung feierten, dann muß die Antwort lauten: Nein!

Das Deutsche Theater ist kein Ost-Berliner, sondern ein deutsches Theater, Thomas Flierl ist kein Ost-Berliner, sondern ein Berliner Kulturpolitiker, Christoph Hein ist kein DDR-Autor, sondern ein deutscher Schriftsteller und Theatermann, und der Pudding erweist sich beim Essen. Mit Lessing zu reden: Die Intendanz Hein "wird viel entscheiden; sie muß aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen."

Foto: Blick auf das Deutsche Theater in Berlin-Mitte: Jahrelang feierten mittel- und westdeutsche Provinz hier Wiedervereinigung


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen