© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/04 29. Oktober 2004

Ich habe es gesehen
Der sudetendeutsche Zeichner Helmut Hellmessen hat ein Skizzenbuch der Vertreibung vorgelegt
Thorsten Thaler

Jahrzehntelang galt das Schicksal der gegen Ende des Zweiten Welt-
kriegs aus den Ostgebieten geflohenen und gewaltsam vertriebenen Deutschen in der Öffentlichkeit als Tabuthema. Vertriebenenverbände und Landsmannschaften kümmerten sich zwar rührend um ihre Klientel, führten aber jenseits alljährlicher Heerschauen (Pfingsttreffen der Sudetendeutschen, Schlesiertreffen, "Tag der Heimat") ein Nischendasein. Betroffene blieben auf kleine Heimatzirkel verwiesen und gruppierten sich um Zeitungen der Vertriebenenpresse. Im öffentlichen Raum, in Schulen und an Universitäten, in Film, Funk und Fernsehen, in der Literatur und Bildenden Kunst wurde das Thema dagegen weitgehend ausgeblendet. Kaum jemand wollte etwas von dem millionenfachen Leid hören, das Deutschen in Ost- und Mitteleuropa während und in der Folge des Krieges widerfahren ist.

Inzwischen hat sich der Wind ein wenig gedreht. Sechzig Jahre nach den Ereignissen nimmt die Beschäftigung mit dem Thema Flucht und Vertreibung augenscheinlich zu, wie ein Blick auf die Publizistik nahelegt. Den Anfang machte Heinz Nawratils "Schwarzbuch der Vertreibung" (2001), in der Breitenwirkung befördert wurde das Thema von der Novelle "Im Krebsgang" (2002), in der Günter Grass vom Untergang der mit Flüchtlingen überladenen "Wilhelm Gustloff" am 30. Januar 1945 vor der pommerschen Küste erzählt, und in diesem Jahr nun gibt es eine Reihe von Nachauflagen und Neuerscheinungen, die sich dem Vertreibungsschicksal widmen. Dazu zählen die erstmals zwischen 1954 und 1961 erschienene achtbändige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa" (dtv) ebenso wie der von Arno Surminski eingeleitete Sammelband "Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948" (Ellert & Richter) sowie das Erzählbuch "Schweres Gepäck. Flucht und Vertreibung als Lebensthema" von Helga Hirsch (Edition Körber-Stiftung). Und natürlich gehören dazu ergreifende Erlebnisschilderungen wie "Überleben war schwerer als Sterben" der Ostpreußin Erika Morgenstern (Herbig) und "Unsere Flucht vor der Front" des Schlesiers Hans J. Liste (Militzke).

Für das merklich gestiegene Interesse an dem Leiden der deutschen Zivilbevölkerung steht auch eine aktuelle Internetumfrage der Zeitschrift Geo. Danach halten 76 Prozent der Teilnehmer die Vertreibung der Deutschen für Unrecht. Nur knapp ein Viertel stimmt der Aussage zu, daß die Deutschen den Krieg begonnen haben und deshalb für die Folgen selbst verantwortlich waren. 68 Prozent finden, daß das Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen in Schulen und Universitäten nicht ausreichend behandelt wird. Und 64 Prozent der Teilnehmer sprechen sich für die Errichtung eines Mahnmals für die deutschen Kriegsflüchtlinge in Berlin aus (Stand: 26. Oktober).

Volkes Stimme ist um so bemerkenswerter, als es immer weniger Zeitzeugen gibt, die aus eigenem bewußten Erleben von den Schrecknissen berichten können (und die sich mehrheitlich sicher nicht an Internetumfragen beteiligen). Einer, der das Grauen erlebt hat, ist der sudetendeutsche Künstler Helmut Hellmessen, geboren am 9. Dezember 1924 im westböhmischen Karlsbad, der kürzlich ein "Skizzenbuch der Vertreibung" (Edition Curt Visel) vorgelegt hat. Der Band enthält 88 eindring-liche, sich auf das Wesent-liche konzentrierende Schwarzweiß-Zeichnungen, ein Grußwort von Karl Kardinal Lehmann und eine Einführung des Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, Weihbischof Gerhard Pieschl, sowie einige wenige Dokumente zur Vertreibung, darunter Auszüge aus den Benes-Dekreten.

Hellmessen ("Bis heute läßt mich das Schicksal der Vertreibung nicht los") ging in Aussig und Prag zur Schule, als Soldat kämpfte er in Rußland und Schlesien. 1945 geriet er zunächst in amerikanische Kriegsgefangenschaft, bevor er im Kohlenschacht Brüx Zwangsarbeit leisten mußte. Die ersten Skizzen zum Thema Vertreibung zeichnete Hellmessen 1947, kurz nach der gewaltsamen Verbannung aus seiner böhmischen Heimat. In Offenbach studierte er bis zum Staatsexamen an der Werkkunstschule. Seit 1957 arbeitet er als freiberuflicher Künstler und Grafiker. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1981 den Sudetendeutschen Kulturpreis.

Hellmessens meisterhafte Vertreibungsskizzen erinnern an den berühmten Radierzyklus "Los Desastres de la Guerra" des Spaniers Francisco de Goya (1746-1828), in dem Goya den spanischen Befreiungskampf gegen die Truppen Napoleons künstlerisch verarbeitet hat. Nicht von ungefähr zitiert Hellmessen in seinem Geleitwort auch den Titel ("Yo lo vi") eines der Goya-Blätter: "Ich habe es gesehen." Und wie Goyas Radierungen dürfen auch die Zeichnungen von Hellmessen eine zeitlose Gültigkeit beanspruchen.

Das Skizzenbuch zeige "in erschreckend-drastischer Weise", so Kardinal Lehmann in seinem Grußwort, "wieviel Leid Menschen erfahren, die ihrer Heimat entrissen, ihrer Vergangenheit beraubt und ihrer Zukunft in Hoffnungslosigkeit ausgeliefert sind. Dies darf niemals vergessen werden."

Helmut Hellmessen: Skizzenbuch der Vertreibung. Mit einem Grußwort von Karl Kardinal Lehmann. Edition Curt Visel im Maximilian Dietrich Verlag, Memmingen 2004, 107 Seiten, 32 Euro


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