© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/04 22. Oktober 2004

Pankraz,
die Hirnforscher und der denkende Bauch

Das Friedensangebot kommt per Internet. Unter der Adresse www.gehirn-und-geist.de/manifest haben letzten Montag elf Neurologen, darunter sämtliche Mitglieder der notorischen "Freiheitsleugnerbande" (Singer, Roth, Koch), ein "Manifest" veröffentlicht, in dem sie ziemlich kleinlaut zur Kenntnis geben, daß sie über das Verhältnis von Neuronenströmen und Willensbildung "fast nichts" wissen. Keine Rede könne also davon sein, daß der freie Wille "wissenschaftlich" aus der Welt geschafft sei.

Worauf es jetzt ankomme, so das Manifest, sei eine große gemeinsame Anstrengung von Geisteswissenschaftlern, Neurologen und Geldgebern, damit in vielleicht zwanzig bis dreißig Jahren der Zusammenhang zwischen Handlungsfreiheit und neuronalen Aktionspotentialen zur allseitigen Zufriedenheit geklärt werden könne. Zwischen beiden bestehe nur ein scheinbarer Widerspruch, den die Forschung in absehbarer Zeit "einfach auflösen" werde.

Vor Tisch las man's anders. Da tönte es aus neurologischen Quartieren, die Willensfreiheit des Menschen sei pure Illusion, der Mensch sei nichts weiter als ein Vollzugsorgan seines Gehirns, welches, ursächlich angetrieben von "reinen Naturvorgängen" und vollkommen unbeeinflußbar durch jederlei Geist, stupide vor sich hinwurstle. Alles Menschenwerk (Miteinandersprechen, Handeln, Dichten, Geschichtemachen) sei nichts weiter als der Ausfluß vorhergehender neuronaler "Naturprozesse".

"Bewiesen" wurde derlei Weltanschauung durch (übrigens nicht ganz sauber durchgeführte) Experimente, bei denen die jeden Denk- und Willensvorgang parallel begleitende neuronale Bewegung zeitlich dem Denk-Akt eine Winzigkeit vorauslief. Dieses zeitliche Nacheinander wurde sofort gedeutet als ein kausales Aufeinander von Neurobewegung und Denk-Akt, als sei letzterer ein punktuelles Ereignis ohne genuines, ihm selbst eigenes Vorher und Nachher.

Unsere Neurologen ("Hirnforscher") erwiesen sich als philosophisch völlig unbeleckt, hatten offenbar keine Ahnung davon, daß schon in der Antike der Arzt Sextus Empiricus den naiven Glauben an das naturale Ursache-Wirkung-Schema bis auf die Knochen blamiert hatte und daß es danach keinem Nachdenker mehr gelungen war, Sextus zu widerlegen.

Wenn jetzt das neurologische Manifest stolz darauf hinweist, daß man doch außerordentliche Fortschritte bei der Beschreibung neuronaler Rezeptoren und bilderzeugender, kombinatorischer Wahrnehmungs-Verarbeitung gemacht habe, so bedeutet das noch lange nicht, daß damit das Verhältnis von Geist und Gehirn auch nur im mindesten geklärt wäre. Wesentliche Antriebe, die die Seele füllen, stammen ja gar nicht aus dem Gehirn, sondern aus dem Bauch, aus dessen "Sonnenge­flecht", wie es bei den alten japanischen Zen-Meistern hieß, deren Erkenntnisse in der modernen Leib-Geist-Forschung immer größere Bedeutung gewinnen.

Elementare Bedürfnisse des Bauches, Hunger und Durst, bedürfen der Schaltzentralen im Kopf gar nicht, um gestillt zu werden. Und solch machtvolle "Bauchgefühle" wie Angst oder stürmische Freude werden ebenfalls nicht zentral geschaltet, sondern "überschwem­men" Leib und Seele jeweils, ohne daß ein Gehirnprozessor etwas dafür oder dagegen machen kann.

Der Mensch ist keine Gehirnmaschine mit einigen unwesentlichen Anhängseln und Fortsätzen, sondern eine wahrhaft identifizierbare Personalität und Individualität, einma­lig und unverwechselbar in all seinen Fasern, von oben bis unten geistdurchpulst und dennoch aufs engste mit dem Leib verbunden. Nicht der Mensch, sondern das Gehirn als Lebensorgan wird durch die neuesten Erkenntnisse abgewertet, oder besser: das Gehirn rückt endlich an jenen Platz, der ihm von Haus aus zukommt, an den Platz eines (natürlich sehr hochentwickelten) Generators oder Dynamos für das Individuum, der also von diesem benutzt wird (statt seinerseits das Individuum zu benutzen).

Zoologen wissen längst, daß die meisten Tiere ihr Gehirn mit seinen jeweils vorhandenen Möglichkeiten viel intensiver beanspruchen als der Mensch. Der Spitzbartfisch etwa benutzt es tatsächlich zu hundert Prozent. Er muß für das speziell ihm zugeordnete Biotop ein riesiges elektro-magneti­sches Kraftfeld aufbauen und benötigt dazu seine volle Gehirnkapazität. Auch bei ihm kann freilich keine Rede davon sein, daß er eine bloße Funktion seines Gehirns sei. Vielmehr ver­hält es sich genau umgekehrt: Das Gehirn ist eine Funktion des Spitzbarts.

Beim Menschen liegen im Gegensatz zum Spitzbart ungeheure Gehirnkapazitäten dauerhaft brach. Wir nutzen unser Gehirn keineswegs optimal aus. Viele seiner Regionen werden im Laufe unseres Lebens überhaupt nie strapaziert, sondern gleichsam in der Garage stehengelassen. Und genau dies spricht für die herausgehobene Stellung, die der Mensch in der Welt des Lebendigen einnimmt.

Der Mensch ist sein Leben lang stets "weniger" als sein Gehirn, aber im Ganzen seiner Existenz und unterm Strich ist er außeror­dentlich viel mehr. Er ist ein Wesen, daß nicht nur in der Wirk­lichkeit, sondern fast mehr noch in der Möglichkeit lebt, das sich unzählige Optionen offenhält - um am Ende vielleicht jener großen Generaloption teilhaftig zu werden, die sämtliche gehirnlichen Möglichkeiten unendlich übersteigt.

Das neurologische Manifest verspricht seinen Lesern eine Fülle von Annehmlichkeiten, die bei forcierter, also teurer und aufwendiger, Gehirnforschung demnächst anfallen könnten: Sieg über Alzheimer, und Parkinson, Schizophrenie und Depression, etwas länger hin zwischenmenschliche Kommunikation ohne aufwendige Hardware, ohne Telefon und Computer, einzig mittels einiger winziger, ins Gehirn implantierter Chips. Das ist (vielleicht) schön. Aber unsere Willensfreiheit werden wir trotzdem behalten.


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