© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/04 22. Oktober 2004

Kein Strom in Schanghai
Energiemarkt: Stark gestiegene Erdölimporte Chinas, Indiens und der USA sowie die Krise im Irak sorgen für steigende Preise
Reimuth Massat

Die Internationale Energieagentur (IEA) warnte schon vor drei Monaten, daß die Lagerbestände von Öl bei Privathaushalten und Unternehmen zu gering seien, da sich diese Marktteilnehmer mit Käufen bisher zurückgehalten hatten. Denn die weitverbreitete Meinung ging dahin, daß die hohen Preise von Rohöl sich zum Herbst hin wieder einpendeln werden.

Das Gegenteil war aber der Fall. Die Rohölpreise sind anhaltend hoch geblieben und in der letzten Woche mit über 54 Dollar pro Barrel (159 Liter) auf das höchste Niveau gestiegen, das es jemals gab, seitdem Rohöl an der Börse in New York gehandelt wurde.

Nun ist genau das eingetreten, was die Internationale Energieagentur mit ihren Warnungen verhindern wollte. Versorgungsängste treiben den Ölpreis nach oben. Alle, die immer länger gewartet hatten, da sie überzeugt waren, der Ölpreis würde sinken, müssen sich nun eindecken. Die Öllagerbestände sind in den Vereinigten Staaten unter dem vom Gesetzgeber vorgesehenen absoluten Mindestniveau gelandet. Dies dürfte dazu führen, daß die Raffinerien versuchen werden, die Lagerbestände wieder aufzufüllen.

Eine Bloomberg-Umfrage ergab, daß die US-Ölvorräte fast auf dem niedrigsten Stand seit 29 Jahren sind. Nach Expertenmeinung wird dies zu weiter steigenden Preisen führen. Das stetige Ansteigen nur oder vornehmlich als ein spekulatives Phänomen wahrzunehmen, ist also wohl nicht zutreffend. Vielmehr entsprach es der Wunschvorstellung jener Privathaushalte und Firmen, welche noch Öl einkaufen mußten.

Auch Anschläge im Irak und Angst vor Anschlägen in Saudi-Arabien und anderen Staaten sind nicht der eigentliche Grund. Dies zeigte sich auch, als der Energieriese Yukos in Konkurs gehen sollte. Die Ölnotierungen waren nach solchen Meldungen stets angestiegen, nach dem Dementi aus Rußland gaben die Notierungen aber nicht wieder im selben Maße nach.

Die neuen Preishochs beruhten eher auf der Befürchtung vor nachfragebedingten Versorgungsengpässen in diesem Winter. Interessant ist hierbei auch, auf länger in der Zukunft (beispielsweise in zwei Jahren) liegende Terminverträge zu schauen, deren Preise für Öl bei über 36 Dollar und höher liegen. Da die Börse immer Entwicklungen vorwegnimmt, zeigt sich, daß die Marktteilnehmer lange nicht erwarten, daß Öl wieder auf das ursprünglich von der OPEC als Wunschspanne angegebene Band von 23 bis 29 Dollar fallen wird.

Die Nachfrage nach Öl dürfte dauerhaft hoch bleiben, was weder in Terrorangst begründet liegt noch an temporären Erscheinungen wie der Yukos-Krise festzumachen ist. Stark wachsende Volkswirtschaften wie China oder Indien fragen permanent Öl nach. In China herrscht trotz des permanenten Ölaufkaufs dauerhafter Energiemangel.

Firmen aus Deutschland, die in China Aktivitäten haben, bauen zum Teil eigene Kraftwerke, um zu verhindern, daß die Produktion stillsteht. Dies bekundete ein Unternehmer aus der Textilindustrie, welcher schilderte, daß er sich nicht leisten könne, das Werk in China wegen Strommangel stillstehen zu lassen. Denn wenn die Reißverschlüsse aus China nicht geliefert würden, stehe die gesamte Kleidungsproduktion still. Aufgrund dieser Folgen habe man sich dafür entschieden, eigene Kraftwerke aufzubauen, denn der Energiemangel in China sei eklatant.

Claude Mandil, Leiter der IEA, äußerte, den stark steigenden Ölbedarf Chinas hätten die meisten Marktbeobachter unterschätzt - "auch in unserem Haus". Stark gestiegene Ölimporte Chinas wie auch der USA träfen zusammen mit der "Krise" im Irak und politischen Unruhen im ebenfalls wichtigen Ölförderland Venezuela.

Da schließlich allein das aufstrebende Land China ein Viertel der Weltbevölkerung stellt, dürfte nach Expertenmeinung die Ölnachfrage dauerhaft nach oben getrieben werden. Die IEA greift die ölfördernden Länder scharf an: "Wir brauchen weltweit sehr viel höhere Investitionen im Ölsektor, bei börsennotierten Konzernen ebenso wie bei Staatsgesellschaften. Die Nachfrage nach Öl steigt schneller als erwartet."

Dieser Aufruf zeigt, als wie bedenklich die Internationale Energieagentur die Lage einschätzt. Die Behörde wurde nach der Ölkrise 1974 von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eingerichtet. Eine der zentralen Aufgaben der IEA ist es, vor Knappheit zu warnen.

Täglich werden 82 Millionen Barrel (je 159 Liter) Rohöl gefördert, die Nachfrage liegt bei 81 Millionen Barrel. Mandil kritisierte die Politik von Ölförderstaaten, keine ausländischen Investitionen zu erlauben. "Einige Förderstaaten wie Rußland, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Nigeria sind offen für ausländische Investitionen, andere wie Saudi-Arabien oder Mexiko sind dafür völlig verschlossen", sagte Mandil. Diese Staaten sehen dies aber als einen Vorwand der USA, aufgrund der aktuellen Situation auf ihre Märkte drängen zu können. Eine Änderung der Politik dieser Staaten sieht der IEA-Chef nicht. "Wenn einige wichtige Förderländer schon keine ausländischen Investitionen in ihre Ölwirtschaft zulassen, dann sollten zumindest staatliche Ölgesellschaften wie Saudi Aramco in Saudi-Arabien mehr investieren."

Es verwundert, wie wenig der Aktienmarkt bisher durch die hohen Ölpreise Schaden genommen hat. Zwar hat er keinesfalls zu neuen Höhenflügen angesetzt, aber es folgte auch nicht der gewohnte Einbruch. Marktteilnehmer, die auf sinkende Kurse spekuliert haben, sind noch nicht richtig zum Zuge gekommen. Erst die in den letzten Tagen aufgetretenen neuerlichen Spitzenwerte des Ölpreises führten wieder zum Greifen des altbekannten Schemas, der Korrelation: Steigende Energiepreise beziehungsweise Ölpreise werden mit Kursabschlägen quittiert.

Diese bisherige Reaktionszurückhaltung der Aktienmärkte in bezug auf den steigenden Ölpreis dürfte auch irgendwann vorüber sein. Die letzten Tage mit erneut stark ansteigenden Ölpreisen haben aber gezeigt, daß der Markt nicht in weiterer Lethargie verweilen wird. Die entscheidende Frage sei hier, inwieweit die Aktienmärkte bezüglich des stetig steigenden Ölpreises noch strapazierfähig seien, äußerte besorgter ein Züricher Händler.

 

Foto: Entwicklung des Erdölpreises, Aral-Tankstelle: Die Weltmarktpreise der wichtigen Öl-Sorten "Brent" und "Crude Light" stiegen im Oktober 2004 zeitweise auf 51,50 beziehungsweise 55,33 Dollar pro Barrel.


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