© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/04 22. Oktober 2004

DIE WOCHE
Vielstimmige Kopflosigkeit
Fritz Schenk

Die Union ist von der Rolle - nicht nur die CDU und ihre Vorsitzende Merkel -, sondern die Fraktionsgemeinschaft insgesamt. Da kracht es allerorten im Gebälk, die Krisen bei Opel und Karstadt-Quelle sind nur der herausragende Ausdruck dafür, und die parlamentarische Opposition beschäftigt sich mit sich selber. Der schon bei seiner Vorlage überschuldete Haushalt platzt aus allen Nähten, statt ursprünglich veranschlagter 29,3 Milliarden Neuverschuldung nennt Eichel im Nachtragshaushalt nun 43,7 Milliarden. Schon das ist Verfassungsbruch, doch kaum war dies verkündet, da errechnet die Fachwelt, daß es wohl 50 Milliarden werden - und die Opposition streitet über innerparteiliche Kompromisse zur Gesundheitsreform. Der Kanzler schlägt mit einer Reise in die Türkei und einige nordafri-kanische Staaten Pflöcke in Richtung einer neuen Nahostpolitik mit weitreichenden Konsequenzen ein - und die Opposition führt Personalschauspiele in ihren Führungsetagen auf.

Was ist aus dieser Union geworden, die dem freien Nachkriegsdeutschland nicht nur innen-und gesellschaftspolitisch ihren Stempel aufgedrückt, sondern ihm auch seinen außenpolitischen Grundkurs in der westlich-abendländischen Wertegemeinschaft vorgegeben hatte, daß sie nun sprach- und konzeptionslos einer beängstigenden Entwicklung zusieht, ja dies nicht einmal wahrzunehmen scheint?

Als Vorsitzende der Unionsfraktion verfehlt hier vor allem Angela Merkel ihre staatspolitischen Grundpflichten. Daß aber auch der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber dieses Gerangel mitmacht, zeigt, daß er nicht im mindesten in die Schuhe seines großen Vorgängers Franz Josef Strauß paßt. Wer sich an frühere Bundestagsdebatten zu den Themen Westintegration, Ost-West-Konflikt, Nato-Nachrüstung, innerdeutscher Grundlagenvertrag, Helsinki-Prozeß erinnert - alles Themen mit grundsätzlichen Weichenstellungen der fünfziger bis achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts -, kann nur mit größter Besorgnis registrieren, mit welcher Blindheit und Ignoranz die politischen Akteure der Gegenwart (und ganz besonders die parlamentarische Opposition) über die heutigen Herausforderungen hinwegsehen.

Daß Friedrich Merz sich zurückzieht und Wolfgang Schäuble seiner Partei- und Fraktionsvorsitzenden einen Korb gegeben hat, macht vor allem deutlich, daß sich Potentiale der Union zurückziehen, die ihr nicht nur Profil gegeben, sondern vor allem politische Richtungen gewiesen haben. Auf den Regionalkonferenzen geht derzeit Merkel mit einem hundertseitigen Papier "Wachstum - Arbeit - Wohlstand" (das noch nicht einmal die dicksten Brocken Steuern, Gesundheit und Soziales enthält!) hausieren, das weder die dort antretenden Berufsfunktionäre lesen und verstehen werden noch die vielbeschworene Wählerschaft. Da hatten Friedrich Merz und Wolfgang Schäuble früher mit anderen Konzepten aufgewartet. Sie dürften wohl auch wegen der konzeptionellen Dürftigkeit ihre Konsequenzen gezogen haben.

So darf sich über die Nachrücker Michael Meister (für Hauhalt und Finanzen) und Ronald Pofalla (Wirtschaft und Arbeit) für Friedrich Merz nur die rot-grüne Regierung freuen. Den Herren Eichel und Clement wird die Nachricht von Merkels Ersatzlösung für Merz jedenfalls keine schlaflosen Nächte bereitet haben. Sie können den künftigen Debatten mit Gelassenheit entgegensehen.


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