© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/04 22. Oktober 2004

Nur Opportunisten
Die Union hat auf Herausforderungen keine überzeugenden Antworten mehr
Alexander Griesbach

Der Spiegel, zuständig für das Agenda-setting im Lande, führt in dieser Woche ein Rührstück auf. Dessen Redaktion hat urplötzlich entdeckt, wie "flüchtig die Macht" sein und wie "einsam" es um diejenigen werden kann, die von ihren "Parteifreunden" zum "Abschuß" freigegeben sind. "Einsam" soll derzeit CDU-Chefin Angela Merkel gegen eine finstere Verschwörung ankämpfen, für die Namen wie der des CSU-Chefs Edmund Stoiber sowie die der CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch (Hessen), Peter Müller (Saarland) oder Christian Wulff (Niedersachsen) stünden.

Als Teil dieser Verschwörung wird auch der Rückzug des für Wirtschaft und Finanzen zuständigen Fraktionsvize Friedrich Merz gedeutet, dem unterstellt wird, sich allein aus "taktischen Gründen" aus der ersten Reihe der Union verabschiedet zu haben. Meint: Ist Merkel erst einmal verdrängt, steht einer Rückkehr von Merz nichts mehr entgegen. "Hartnäckig betreiben die Wessis", behauptet der Spiegel, die Demontage Merkels, "um den Herausforderer von Kanzler Gerhard Schröder unter sich auszumachen". So beten es seit Tagen auch alle anderen "Meinungsmacher" in Deutschland nach. Einmal mehr bricht der Spiegel mit seiner Darstellung der aktuellen Krise der Union, die aus der Klipp-Schule der Küchenpsychologie stammen könnte, komplexe politische Prozesse auf die persönlichen Ambitionen und Eitelkeiten bestimmter politischer Akteure herunter.

Dieses Stück Journalismus wird so ausführlich paraphrasiert, weil es alle Kriterien dessen erfüllt, was sonst als "Populismus" gekennzeichnet wird. Hier handelt es sich um Populismus von links. Daß der aktuelle Abwind, in dem sich die Union befindet, vor allem auf Differenzen zwischen den Unionsparteien oder Intrigen einer kleinen Clique von CDU-Ministerpräsidenten gegen Merkel zurückzuführen ist, die postwendend von der "Bevölkerung" für das "schlechte Erscheinungsbild" der Union verantwortlich gemacht würden, mag glauben, wer will. Vielmehr dürfte sich allmählich die Erkenntnis durchgesetzt haben, daß die Unionsparteien im Wahljahr 2006 keineswegs eine "Alternative" zur rot-grünen Politik darstellen werden, sondern nur deren Fortsetzung mit anderen Mitteln.

Wenn Vertreter der Union von "Reformen", "Wettbewerbsfähigkeit" und anderen gängigen Worthülsen des Neoliberalismus reden, dann heißt dies im Klartext: Abbau des Sozialstaates, härterer Wettbewerb, Entsolidarisierung, Privatisierung und dergleichen mehr. Immer mehr Menschen spüren inzwischen, was hinter Phrasen wie "offene Märkte", "freier Warenverkehr", "offene Grenzen" oder "Wettbewerbsfähigkeit" wirklich steht: nämlich Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Verarmung, Zuwanderung, Entwurzelung und Orientierungslosigkeit. Phänomene, auf die die angeblich "christliche" Union schon deshalb keine überzeugenden Antworten mehr geben kann, weil sie selbst Wortführer der großen Veränderung ist, die, traut man den Aussagen ihrer Protagonisten, unter einer unionsgeführten Bundesregierung noch schneller als unter einer rot-grünen betrieben werden soll.

Hier liegen denn wohl auch die eigentlichen Ursachen für den derzeitigen Aufschwung der NPD, die den Protest gegen den Marsch in eine rundum "globalisierte Gesellschaft" zum Teil auf ihre Mühlen umzulenken versteht. Was Mitte der neunziger Jahre, als von der 20:80- Gesellschaft die Rede war, als globalisierungsfeindliche "linke" Propaganda abgetan wurde, wird heute mehr und mehr Wirklichkeit. Die 20:80-Gesellschaft: Sie sah Anfang der neunziger Jahre der damalige US-Arbeitsminister Robert Reich heraufziehen. Um die globalisierte Industrie am Laufen zu halten, so Reich, bedürfe es nur 20 Prozent der weltweit Erwerbstätigen. Die restlichen 80 Prozent müßten "irgendwie" bei Laune gehalten werden. Schaut man heute auf die Union, dann drängt sich der Eindruck auf, daß sie nichts anderes als ein Transmissionsriemen in ebendiese Gesellschaft sein will.

Die strukturelle Ununterscheidbarkeit von Rot-Grün mag Merkel in den letzten Tagen motiviert haben, laut über eine Unterschriftenaktion gegen den EU-Beitritt der Türkei und für eine "privilegierte Partnerschaft" mit dieser nachzudenken. Wie immer knickte die blasse Vorsitzende beim ersten scharfen Gegenwind, mitverursacht durch die notorischen Opportunisten in ihrer eigenen Partei, ein.

Selbst dieser halbherzige Versuch, die Stimmung "unter den Menschen", von denen Merkel nicht müde wird zu schwadronieren, aufzunehmen, blieb weit unter den Notwendigkeiten. Denn konsequenterweise hätte Merkel das fordern müssen, was seit langem überfällig ist: nämlich Volksabstimmungen auf Bundesebene. Vor dieser letzten Konsequenz ist die CDU-Chefin zurückgeschreckt. Spätestens mit diesem Rückzug dürften die letzten begriffen haben, daß die heutige Union nichts anderes als eine Pappel im Wind ist.

Daran werden auch mögliche Unions-Kanzlerkandidaten oder Parteichefs, die den Namen Wulff, Stoiber, Koch oder Müller tragen, nichts ändern. Diese Politiker sind personifizierte Mittelmäßigkeiten ihrer Parteien, die sich innerhalb der Grenzen der politischen Vernunft des real existierenden Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland bewegen.


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