© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/04 15. Oktober 2004

Russisch-islamischer Sonderweg
Eine Untersuchung über das jahrhundertealte Verhältnis der muslischen Völker im eurasischen Großreich
Ulrich Krohne

Die Dauerkrise im Nordkaukasus, die inzwischen fast allmonatlich blutig eskaliert, verlangt nach Erklärungen. Mit raschen Antworten über den "russischen Kolonialismus" und den sich widersetzenden "Islamismus" der Kaukasusvölker ist da wenig getan. Wie meistens kommt man dem Verständnis wenigstens etwas näher, wenn man die Geschichte befragt. Dies tut Andreas Kappeler in einem umfangreichen Aufsatz über "Rußland und die islamischen Völker" (Saeculum 1/04), der zurückführt bis ins Mittelalter.

Im Vordergrund steht dabei über die Jahrhunderte hinweg keineswegs das Verhältnis von Eroberern und Unterworfenen. Kappeler arbeitet vielmehr als Besonderheit heraus, daß neben den Raubzügen, mit denen sich Christen und Muslime wechselseitig überzogen, intensive wirtschaftliche und politische Beziehungen bestanden. Anders als in Westeuropa, wo der schon in Spanien etablierte Islam wieder rückstandslos nach Afrika zurückgedrängt wurde, anders als auch auf dem Balkan, wo das Osmanische Reich seine Grenzen nach Konstantinopel zurückverlegen mußte, blieben die orthodoxen Ostslawen mit dem Islam sehr viel stärker verzahnt. Muslime, so Kappeler, wurden in Rußland "später und weniger konsequent ausgegrenzt und mit Feindbildern instrumentalisiert als in West- und Mitteleuropa". Folglich sei der "kulturelle Abstand" zwischen Russen und Muslimen kleiner als im übrigen Europa.

Geringerer Abstand zum Islam als im übrigen Europa

Historisch spiele dabei auch eine große Rolle, daß das Zarentum sich die positiv besetzte Tradition des mongolischen Weltreiches angeeignet habe - so weit, daß noch geopolitische Moskauer Phantasien des 20. Jahrhunderts, aktuell jene "Neo-Eurasier" um Lev Gumilev und Aleksandr Dugin, imperialistischen und "teilweisen rassistischen" Honig daraus saugen könnten.

Wichtiger als solche Traditionen ist nach Kappelers Urteil das "defensive" Selbstverständnis der russisch-orthodoxen Kirche. Trotz des von Byzanz übernommenen antiislamischen Feindbildes hat eine religiöse Auseinandersetzung nie stattgefunden. Der Koran sei aufgrund dieser Indifferenz erst im 18. Jahrhundert ins Russische übersetzt worden. Entsprechend schwach war die Neigung zur Missionierung ausgeprägt. Generell habe die Orthodoxie "erheblich weniger aggressiv als die römische Kirche" missioniert und sich stets der theologischen Legitimation von Gewalt widersetzt. Schon im Byzantinischen Reich hätten daher Muslime und Juden als Untertanen eines christlichen Kaisers gelebt, ohne wie in Westeuropa verfolgt oder vernichtet zu werden.

Die "relative Passivität" der Orthodoxie sei noch verstärkt worden durch ihre Unterordnung unter das politische Regime. In St. Petersburg und Moskau war man seit dem 18. Jahrhundert primär daran interessiert, die Expansionspolitik nach Osten und Süden nicht zu gefährden. Die dabei entstehende Konkurrenz mit dem Osmanischen Reich wie mit Großbritannien vertrug keine Reibungsverluste an den Rändern der staatlichen Macht. Mit einer "pragmatisch-flexiblen Politik der Duldung" fuhr man besser als mit aufwendiger "Zwangschristianisierung".

Seit Peter dem Großen sei die Toleranz maßgeblich gewesen

Schließlich sei Rußlands "Sonderweg" in den Beziehungen zum Islam auch damit zu erklären, daß erst seit Peter dem Großen die Voraussetzungen für eine "forcierte Integration" vorlagen, zu einem Zeitpunkt, als Rußland von der westlichen Welle der Aufklärung erfaßt wurde. Unter Katharina II. setzte sich die Toleranzidee auch rasch durch, mit der Folge, daß bis ins 20. Jahrhundert religiöse Reformen den Muslimen "neue Kohärenz" verschafften.

Damit glaubt Kappeler historisch verständlich gemacht zu haben, warum in Rußland relativ stabile ethno-religiöse Gemeinschaften bis ins 21. Jahrhundert überdauern konnten. Aus der eher kooperativ-toleranten, denn vom "Freund-Feind"-Denken beherrschten Tradition wäre für den Nordkaukasus jedoch eine ganz andere, friedlichere Entwicklung zu erwarten gewesen. Kappelers Rückschau entläßt den Leser daher am Schluß in die Ratlosigkeit. Läßt sich am Ende doch nicht alles aus der Geschichte verstehen? Oder legt er einen tschetschenischen "Sonderweg" im russisch-muslimischen "Sonderweg" nahe?


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