© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/04 15. Oktober 2004

Die Nachtseite der Zivilisation
Freiheit, Krankheit, Bürgerlichkeit: Warum autonome Individuen so oft an Depressionen leiden
Alain de Benoist

Die Depression, die noch im 19. Jahrhundert als simples Symptom galt, hat sich inzwischen zu einer eigenständigen Krankheit entwickelt und der Neurose als der in der westlichen Welt am weitesten verbreiteten psychischen Störung den Rang abgelaufen. Somit ist sie zu einer neuen Zivilisationskrankheit geworden. Sie speist sich aus sämtlichen gesellschaftlichen Übeln, aus allem Elend, aus jedem Gefühl des Ausgeschlossenseins, aber auch aus dem Fehlen jeglicher Koordinaten, aus dem Verschwinden des Sinns. In ihr verbindet sich demokratische Gleichheit mit der alten aristokratischen Melancholie vor dem Horizont einer ewig enttäuschten Erwartung. Depression ist weniger ein subjektiver Geisteszustand als vielmehr ein Mittel, die Probleme zu benennen, die die heutige Lebenswelt verursacht. Unter diesen Voraussetzungen kann man mit Fug und Recht von der depressiven Gesellschaft sprechen.

Daß die Depression sich so verbreiten konnte, liegt vor allem daran, daß wir Individuen ohne jede Tradition oder Orientierung geworden sind, die uns von außen anleitet, wer wir sein und wie wir uns verhalten sollen. Wie Alain Ehrenberg überzeugend gezeigt hat, sind die Befreiung des Individuums und die chronische identitäre Unsicherheit zwei Gesichter derselben Entwicklung. Die Depression ist eine Krankheit des modernen Freiheitsbegriffs, die Hand in Hand geht mit der Aufwertung individueller Autonomie im sozialen Leben.

Im klaren Bewußtsein seiner Endlichkeit kann der Mensch nur leben, indem er sich in der Welt seine eigene Welt schafft - eine Welt, deren Koordinaten die Summe der Möglichkeiten ausmachen, die sich ihm eröffnen. Das autonom gewordene Individuum wird sich allzu oft gewahr, daß es seinen Hoffnungen und Fähigkeiten, ja sogar seinen Sehnsüchten nicht gewachsen ist. Das aus den alten Ordnungen der Konformität oder des Gehorsams befreite Individuum sucht vergeblich nach einem Ersatz - denn für ein in der Gesellschaft lebendes Wesen kann der Sinn des Lebens nur ein gemeinsamer Sinn sein.

In einer Gesellschaft, in der jeder sein eigener Herrscher sein soll, wird das Individuum weniger mit Verboten konfrontiert - die keineswegs verschwinden, aber subtilere Formen annehmen - als mit dem Problem der uneingeschränkten Möglichkeiten. Mit der Entfesselung von Wissenschaft und Technologie, der weltweiten Verbreitung des Kapitalismus sind wir in das Zeitalter des Grenzenlosen eingetreten. Diese Ablehnung von Grenzen ist zugleich eine Ablehnung jeder Orientierung, denn orientieren kann man sich nur an Grenzen. Eine Orientierungsmarke, wie immer sie aussieht, hilft zu verstehen, daß eben nicht alles möglich ist - oder daß alles, was denkbar ist, nicht gleichermaßen wünschenswert ist. So betrachtet steht das Genußprinzip mehr denn je im Gegensatz zum Wirklichkeitsprinzip, zumal das Virtuelle das Reale immer mehr ersetzt oder gar an seine Stelle tritt. Die Krankheit entsteht also aus der Unfähigkeit, mit widersprüchlichen Drängen fertigzuwerden in einer Gesellschaft, die jeden Einzelnen dazu treibt, sich zu "entfalten", nachdem sie zuvor Sorge getragen hat, seinen Konformismus sicherzustellen, und seine "Freiheit" zu genießen, während sie immer ausgefeiltere Kontrollmaßnahmen schafft. Der Mensch kommt sich jeden Tag verwundbarer und zerbrechlicher vor in einer Welt, die ihm ihrerseits immer mehr "Leistung" abverlangt. Entsprechend mäßigt er seinen Lebensdrang. Er wird deprimiert.

Doch die Orientierungslosigkeit rührt auch von dem Mangel an Alternativen her. Nach den Greueln und gescheiterten Idealen des 20. Jahrhunderts haben wir uns damit abgefunden, in dem Bewußtsein zu leben, daß das, was ist, zwangsläufig so ist. Die frohe Botschaft des Neoliberalismus, die unablässig von allen Medien vermittelt wird, lautet, daß es keine Alternative zum Status quo gibt. Diese Gesellschaft ist zum Verzweifeln? Sie ist dennoch die einzig mögliche. Mehr denn je befindet sich heute alles im Wandel, damit sich überhaupt nichts ändert.

So leben wir zum einen im Angesicht der Grenzenlosigkeit - der Unendlichkeit verfügbarer Waren - und mit dem engen Horizont einer bereits beendeten Geschichte, wobei die allgegenwärtige Ablenkung einzig und allein dem Ziel dient, die Langeweile, das Gefühl des unwiderruflichen Verlustes zu übertünchen, aus dem sich Melancholien speisen. Wir leben in ständiger Bewegung und kommen doch nicht von der Stelle, leiden zugleich an Überfüllung und Leere: an der Vorstellung, daß alles möglich, und der Feststellung, daß nichts zu bewältigen ist.

Gleichzeitig ändert sich das Verhältnis zur Zeit. Die Vergangenheit ist nicht mehr historisierbar, sondern wird auf narzißtische Art hysterisiert. Die Gegenwart ist nicht mehr futurisierbar: Sie läßt sich nur noch als reine Wiederholung in die Zukunft projizieren.

Schließlich wird diese Zukunft vor allem als Bedrohung und nicht mehr als Hoffnung wahrgenommen. Der Aufopferungseifer, die unerhörten Mobilisierungen des 20. Jahrhunderts mögen zwar das zwanghafte Gedenken eines "Gedächtnisses" in Gang halten, das sich im Leerlauf dreht - rückblickend können sie nur Unverständnis hervorrufen: Wie soll man in einer Welt, in der alles seinen Preis hat, nachvollziehen, was es bedeutet, für eine Sache zu sterben oder sich aufzuopfern? Statt dessen werden bedachtsam Interessen vertreten.

Gefahren und Risiken aller Art scheinen sich genau in dem Augenblick zu vervielfachen, in dem das kollektive Risiko als inakzeptabel, ja als Skandal gilt. Daraus resultieren unkontrollierbare Ängste, die ihrerseits Wahnvorstellungen verursachen. Die Massen sind jederzeit zur Panik bereit, sobald man ihnen imaginäre Feinde an die Wand malt und reelle Verantwortung dabei sorgfältig ausblendet. In einem Zeitalter, in dem jeder sich als Opfer fühlt, wird jedes Unglück als Katastrophe erlebt, aber nur individuelle Lösungen ("psychologischer Beistand") für gesellschaftliche Probleme angeboten. Man weiß nicht mehr, was es heißt zu leben, sondern bemüht sich nur noch, um jeden Preis zu überleben. In dem Trend, "Rechte" einzufordern, Anspruch zu erheben, drückt sich das unerfüllbare Verlangen aus, gegen alles und jedes per Statut abgesichert zu sein. Mit der Überalterung der Bevölkerung wird sich diese Sicherheitsobsession noch verstärken.

Die schrittweise Entzauberung der Welt - zunächst durch die Theologie, später durch die Wissenschaft - steht vor der Vollendung. Die Welt ist zum Markt geworden, einem Universum, in dem alle Werte sich in Zahlen bemessen lassen, wo der Kapitalismus seine Bewertungskriterien nach und nach auf alle Bereiche des sozialen Lebens ausdehnt. Nicht mehr der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern die Dinge - Produkte und Handelsgüter - sind das Maß des Menschen. Alles, was einst Sinn stiftete, alles, was eine symbolische Dimension in sich trug, damit die Vorstellungskraft nicht versiegte, ist dem Untergang geweiht in einer Welt, die den Menschen und die Natur selber immer mehr ausschließt. Auch dies trägt zum allgemeinen Sinnverlust bei.

Genau wie die fallende Geburtenrate offenbart die steigende Depressionsanfälligkeit einen Mangel an Lebenslust - als hätte all das, was die vorhergegangenen Generationen erschaffen haben, die nachfolgenden erschöpft. Daß die reichsten Gesellschaften zugleich die depressivsten sind, zeigt, daß Geld nicht glücklich macht und daß Lebensfreude keine Frage des materiellen Lebensstandards oder der Kaufkraft ist. Die materiell reichsten Gesellschaften sind heute auch die spirituell ärmsten, während die materiell ärmsten sich noch auf die Vergangenheit stützen und voller Hoffnung in die Zukunft blicken können. Führte früher (individuelle) Verzweiflung zu (sozialer) Explosion, so besteht derselbe Zusammenhang heute zwischen Depression und Implosion. Über kurz oder lang muß diese Welt implodieren.


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