© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/04 15. Oktober 2004

Anspruch auf viele Milliarden aus Brüssel
Türkei: Die Empfehlung der EU-Kommission für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Ankara stellt fromme Wünsche über harte Fakten
Peter Lattas

Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat sein letztes großes Projekt durchgedrückt: Unbeein-druckt von mannigfachen Bedenken bei Völkern und Regierungen empfiehlt die EU-Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Wunschdenken hat über Realismus gesiegt - und der selbstbewußt auftretende Kandidat Türkei wird von dem Prozeß weitaus mehr profitieren als die EU, deren Grundlagen durch den ersten Beitritt eines eurasischen Staates radikal in Frage gestellt werden.

Die Türkei sei für die EU "strategisch wichtig, da sie an potentielle Konfliktzonen im Nahen Osten, dem Kaukasus, in Zentralasien und Mittelmeerraum grenzt", heißt es im letzte Woche veröffentlichten Fortschrittsbericht der EU-Kommission. Man erhoffe sich eine "stabilisierende Rolle" der um die Türkei erweiterten EU und ein "Signal an die muslimische Welt, daß Glaubensfragen mit den Werten der EU vereinbar sind". Ferner könne der Beitritt der Türkei "zur Sicherung der Energieversorgungswege für Europa beitragen". Auch geht die EU-Kommission davon aus, daß sich "die Beziehungen zwischen der EU und Iran aufgrund der gemeinsamen Grenze intensivieren".

Zwischen den Zeilen ist zu lesen, daß die erweiterten Berührungsflächen mit dem Nahen Osten und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch erweiterte Probleme bergen können - etwa "wegen Energiefragen oder überlappender Interessen im Kaukasus und in Zentralasien". Viel Optimismus wird auf die Zerstreuung von Bedenken hinsichtlich der Ausweitung der EU-Grenzen durch den Türkei-Beitritt verwandt. Armenien, Aserbeidschan, Georgien, Syrien, Iran und Irak würden durch die Aufnahme der Türkei zu EU-Anrainerstaaten - eine "große Herausforderung". Der türkische Beitritt werde "die Zusammenarbeit in bezug auf organisierte Kriminalität einschließlich Menschenhandel, Drogenhandel und illegale Einwanderung intensivieren".

Heißt im Klartext: Es ergibt sich eine Fülle neuer Probleme, für deren Lösung "umfangreiche Investitionen" nötig seien. Zwar werde die Türkei "der Schengen-Zone (...) nicht mit dem Beitritt und auch nicht für einige Zeit danach angehören, sondern zu einem späteren Zeitpunkt, den der Rat nach einer genauen Bewertung ihrer Grenzverwaltungspraxis festlegt". Die Erfahrung aus der letzten Erweiterungsrunde lehrt freilich, daß das Tor in jedem Fall weiter offensteht, auch wenn Grenzkontrollen nicht sofort aufgehoben werden.

Zu den heikelsten Fragen gehört indes der Migrationsdruck aus der Türkei. Der "langfristige Abbau der Schranken" werde zu "etwas mehr Arbeitsmigration" führen, heißt es abwiegelnd. Nur in Fußnoten werden Studien zitiert, die von 2,7 Millionen türkischen Einwanderern in die bisherigen EU-Staaten ausgehen (niederländisches Planungsamt) bzw. von 4,4 Millionen, die nach Deutschland wollen (Osteuropa-Institut München). "Seit den achtziger Jahren wandern aus der Türkei netto rund 40.000 bis 60.000 Personen pro Jahr bzw. rund 0,2 Prozent der türkischen Erwerbsbevölkerung ab; diese Abwanderung erfolgt nahezu vollständig in Form der Familienzusammenführung. Im Jahr 2002 waren in der EU-15 rund drei Millionen türkische Staatsangehörige offiziell gemeldet. Die wichtigsten Aufnahmeländer sind Deutschland (77,8 Prozent der Wanderarbeitnehmer bzw. 2,3 Millionen Menschen), Frankreich (7,9 Prozent bzw. 230.000 Menschen), Österreich (4,7 Prozent bzw. 135.000 Menschen) und die Niederlande (4,4 Prozent bzw. 128.000 Menschen). Türkische Staatsangehörige stellen bei weitem die stärkste Gruppe an Drittstaatsangehörigen in der EU."

Somit sei "die Zuwanderung von Arbeitnehmern aus der Türkei zu einem etablierten Phänomen geworden"; gleichwohl seien "einige Schwierigkeiten mit der Integration" noch zu bewältigen. In den Bereich der frommen Wünsche gehört die Erwartung, "die Bevölkerungsdynamik der Türkei könne (...) einen Beitrag beim Ausgleich der Alterung der EU-Gesellschaften leisten". Angesichts des niedrigen Qualifikationsstandes seien vorher erhebliche Investitionen in die Reform des Bildungs- und Ausbildungswesens erforderlich, schränkt das Papier selbst ein.

Zwar bescheinigt die EU-Beitrittsempfehlung der Türkei umfangreiche Reformfortschritte im "rechtlichen und institutionellen" Rahmen - Strafrecht, Bürgerrechte, internationale Abkommen, Minderheitenschutz. Nichtmuslimische Minderheiten werden aber weiterhin massiv benachteiligt (JF 37/04).

Das meiste steht nur auf dem Papier: "Die Umsetzung der formell an den Besitzstand angeglichenen Rechtsvorschriften ist weiterhin unzureichend. Die Verwaltungskapazität muß in den meisten Bereichen ausgebaut werden." Auch Folter ist immer noch ein Problem - trotz "Null-Toleranz-Politik" bleiben viele Folterer straffrei. Trotzdem wird die Beitrittsempfehlung auf dieser Grundlage ausgesprochen.

Bescheiden sind dagegen die "Fortschritte" auf wirtschaftlichem Gebiet: "Das Pro-Kopf-BIP nach Kaufkraftstandards lag 2003 bei 28,5 Prozent des EU-25 Durchschnitts, vergleichbar mit dem Bulgariens und Rumäniens. In derzeitigen Preisen ausgedrückt entsprach das türkische BIP rund zwei Prozent des BIP der EU-25 bzw. knapp der Hälfte dessen der zehn neuen Mitgliedstaaten." Folge: Die "positiven wirtschaftlichen Auswirkungen der türkischen EU-Mitgliedschaft" dürften "asymmetrisch ausfallen, das heißt niedrig für die EU-25 als Ganzes und weitaus umfangreicher für die Türkei."

Harte Verteilungskämpfe sind demnach zu erwarten: "Ähnlich wie bei der jüngsten Erweiterung würde der Beitritt der Türkei, einem Land mit niedrigerem Durchschnittseinkommen, das regionale Wirtschaftsgefälle innerhalb der EU verstärken und damit die Kohäsionspolitik vor eine größere Bewährungsprobe stellen." Die gesamte Türkei hätte lange Zeit Anspruch auf erhebliche Unterstützung aus Mitteln der Strukturfonds und des Kohäsionsfonds; andere Regionen und Mitgliedstaaten würden ihre Ansprüche verlieren, oder das Transfervolumen müßte immens ausgeweitet werden.

Kein Prophet muß man sein, um vorauszusagen, daß die Türkei ein härterer Verhandlungspartner sein wird als alle bisherigen. Dafür spricht schon das schiere Gewicht: Mit ihren schon jetzt 70 Millionen Einwohnern entspricht die Türkei weitgehend den zehn neuen Mitgliedstaaten zusammen und stellt 15,5 Prozent der Bevölkerung der EU-25. Die Türkei wird Deutschland an Fläche und bis 2015 auch an Bevölkerung übertreffen. Während man die EU-Bürger mit dem Hinweis auf lange Übergangsregelungen zu beruhigen sucht, verkündet Premier Recep Tayyip Erdogan selbstbewußt, die Türkei werde keine Diskriminierung im Vergleich zu anderen EU-Kandidaten hinnehmen.

Konkrete Zahlen werden in dem Bericht nirgends genannt; den Hinweis, daß die Türkei bei Fortschreibung der jetzigen Praxis in zwanzig Jahren Anspruch allein auf 28 Milliarden Euro Agrarsubventionen hätte, ließ EU-Haushaltskommissarin Michaele Schreyer vor Veröffentlichung wieder streichen.

Seitens der Beitrittsbefürworter wird oft darauf hingewiesen, daß der Türkei schließlich schon seit vier Jahrzehnten eine "Beitrittsperspektive" eröffnet worden sei - von unionsgeführten Bundesregierungen. Das trifft zu. Kaum erwähnt wird freilich, daß 1963, als Kommissionspräsident Walter Hallstein (CDU) das Assoziationsabkommen aushandelte, die EWG wenig mehr als eine Freihandelszone war. Es stellt sich daher die Frage, ob die Aufnahme raumfremder Staaten mit dem Kurs einer immer engeren EU-Integration überhaupt vereinbar ist. Die Entscheidung "Staatenbund oder Bundesstaat" steht wieder auf der Tagesordnung. Ein "Weiter so" ohne Reform der Institutionen wird die EU sprengen.

Jedem Mitgliedsstaat, auch Deutschland, steht es indes frei, während des als "offen" bezeichneten Verhandlungsprozesses unter Hinweis auf die Nichteinlösung der ungedeckten Wechsel auf die Zukunft die Notbremse zu ziehen - wenn er denn wollte.


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