© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/04 15. Oktober 2004

Die impotente Opposition
Eine verkorkste Unterschriftenkampagne offenbart die Krise von CDU/CSU
Doris Neujahr

Der Vorschlag des CSU-Politikers Michael Glos, eine Unterschriftenkampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei zu starten, verdient Unterstützung, aber aus ganz anderen Gründen, als Merkel, Glos & Co. glauben. Denn die Unionsführung operiert von keinem festen Wertefundament aus und steht auch für keine echte Alternative. Sie will vor allem ihr parteipolitisches Süppchen kochen. Bis 1998 haben CDU/CSU als Regierungsparteien selber die türkischen EU-Hoffnungen forciert. Der Glos-Vorschlag ist deshalb ein Versuch, das eigene Versagen zu kaschieren, den Wählerunmut auf die Mühlen der Schwesterpartei zu leiten und gleichzeitig die fällige Sachdebatte zu umgehen, zu der die Union sich weder intellektuell noch habituell in der Lage fühlt. Wieder einmal betreiben CDU/CSU Oppositionspolitik auf dem Niveau von "Kinder statt Inder". Trotzdem ist die Unterschriftenkampagne zu begrüßen, und zwar als Mittel zum Zweck. Sie könnte die Chance eröffnen, die Öffentlichkeit gegen das generelle Versagen der politischen Klasse zu mobilisieren.

Zuerst aber wären Schröder und Fischer gezwungen, in eine Aussprache über ihre Europapolitik einzutreten. Denn außer Sprechblasen haben sie zu ihrer Begründung bisher nichts geboten, und die Medien sind außerstande, ihr Versagen zu thematisieren. Andererseits gärt es im Land. Das Volk spürt, daß der flapsige Stil der Sache nicht angemessen ist. Ihm schwant, daß die Politiker den Problemen, die sie selber anrichten, nicht gewachsen sind. Die Bürger sehen ihre Existenzchancen durch eine offensichtlich verantwortungslose Politik bedroht.

Keine der neueren europapolitischen Prognosen ist in Erfüllung gegangen. Die Behauptung, die Erweiterung und die Vertiefung der Union seien zwangsläufige Parallelprozesse, hat sich genauso als Unsinn herausgestellt wie die Voraussage, die Einführung des Euro würde eine politische Annäherung und Strukturreform quasi naturgesetzlich erzwingen. Selbst Helmut Schmidt, neben Kohl der vehementeste Euro-Befürworter, hält es inzwischen für möglich, daß die EU zur Freihandelszone degeneriert. Eine Freihandelszone, wie man hinzufügen muß, die von Deutschland ausgehalten wird.

Weiterhin gibt es historische Erfahrungen mit überdehnten Imperien, und die Grenzregionen, in die man vorzurücken gedenkt, werden von Kriegen und unkalkulierbaren religiösen Spannungen erschüttert - Gesichtspunkte, die in der politischen Argumentation von Rot-Grün unterbelichtet bleiben. Ihre Europapolitik gleicht einem Zug ins Blaue, und es ist zu befürchten, daß die türkische EU-Mitgliedschaft nur als Zwischenstation gedacht ist.

Friedbert Pflüger lehnt die Unterschriftenkampagne mit dem Hinweis ab, die Union habe die Möglichkeit, ihre Auffassung im Parlament deutlich zu machen. Pflüger ist der außenpolitische Sprecher seiner Fraktion. Warum hat er die Regierung, deren außenpolitischen Schwachstellen offensichtlich sind, denn nicht schon längst gestellt? Erstens weil es auch die Schwachstellen der Opposition sind. Zweitens weil Pflüger, dieser Ritter von der traurigen Gestalt, der symptomatisch für die Verfassung des gesamten bürgerlichen Lagers steht, einem Kraftprotz wie Joschka Fischer an Persönlichkeit nichts entgegenzusetzen hat.

Wegen der weinerlichen Defensivposition der Union sind nicht nur die Bundestagsdebatten zu Totalausfällen geworden, sondern auch die Wahlkämpfe. Vor zwanzig Jahren wurde wenigstens noch im Wahlkampf gegen den Zeitgeist Tacheles geredet, wenn auch die Konsequenzen ausblieben. Heute gilt es bei Unionspolitikern schon als Ausweis von Mut, wenn sie bekunden, sie ließen sich vom Zeitgeist nicht den Mund verbieten. Den Beweis dafür erwartet schon keiner mehr.

Aber was heißt überhaupt Zeitgeist? Es geht um die Schrumpfung der politischen Kommunikation auf politisch korrekte Signalbegriffe. So fordert Rot-Grün, in der Debatte um die Türkei dürfe keine "Ausländerfeindlichkeit" geschürt werden. Was das ist, bestimmen sie selber und blocken so die Sachdebatte ab. Ein anderes Totschlagargument lautet, man dürfe die EU nicht als christlichen Klub definieren. Die Unionschristen senken dann schuldbewußt den Kopf, anstatt aggressiv zu fragen: Warum eigentlich nicht? Der Publizist Konrad Adam verwies kürzlich auf den Novalis-Aufsatz "Die Christenheit oder Europa" und erinnerte daran, daß Politik ohne geistesgeschichtliche Grundkenntnisse nicht gestaltet werden kann.

Die Degeneration des Politischen und des Reflexionsniveaus der politischen Klasse trifft die Union naturgemäß härter als Rot-Grün. Denn zum Selbstverständnis und Bild der Linken gehört der revolutionäre Gestus, der die - vermeintlich - überalterten Traditionsbestände wegfegt. Die Aufgabe der Union wäre es, diese zu verteidigen, zu transformieren, doch wie soll das gehen, wenn auch die Unionspolitiker entweder gar nichts mehr von ihnen wissen oder nicht den Mut haben, sich zu ihnen zu bekennen, das heißt, den Kampf um die politisch-kulturelle Hegemonie aufzunehmen?

Gerade wurde bekannt, daß EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen gegen den Widerstand Frankreichs und Großbritanniens die "privilegierte Partnerschaft" Israels betreibt. Bei diesem Status würde es natürlich nicht bleiben, denn so europäisch wie die Türkei ist Israel allemal. Angeblich soll damit Einfluß auf den Friedensprozeß gewonnen werden - eine lächerliche Vorstellung. Es liefe darauf hinaus, den lebensgefährlichen Nahostkonflikt einzudeutschen und andererseits den Zugriff auf den Bundeshaushalt weiter zu internationalisieren. Wie will die Union, wenn es zum Schwur kommt, darauf reagieren? Sie kann auf diese Hybris nur angemessen antworten, indem sie den ideologischen Überbau der Bundesrepublik, den eine schmale, aber einflußreiche Intellektuellenschicht ihr verordnet hat, einer Generalrevision unterzieht.

Die Zeichen stehen schlecht, weil es sich bei CDU/CSU um orientierungslose, ältliche Kaffeekränzchen handelt. Die Zeichen stehen gut, denn wenn Rot-Grün erst zum Offenbarungseid über die konzeptionellen Grundlagen und Zielvorstellungen ihrer Europa-Politik gezwungen ist, stellt sich auch die Frage der politisch-kulturellen Hegemonie völlig neu. Das erklärt die teilweise hysterischen Reaktionen auf den Glos-Vorschlag. Die Unterschriftenaktion müßte mit einer Kampagne für plebiszitäre Elemente verbunden werden. Die Aktion erhielte dann eine neue Dynamik, die sich auch gegen den Opportunismus und die Konzeptionslosigkeit von Merkel, Glos & Co. wenden würde. Das Hauptproblem der deutschen Politik ist ja nicht die Türkei, sondern die Allmacht der von mittelmäßigen Figuren angeführten Staatsparteien.


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