© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/04 01. Oktober 2004

Die Union wird gesprengt
Ein EU-Beitritt der Türkei würde Europa schweren Schaden zufügen
Doris Neujahr

Nicht die drei Handvoll DVU- und NPD-Abgeordnete in zwei Landtagen sind eine Gefahr für die Demokratie in Deutschland, sondern die Arroganz der Macht, mit welcher der EU-Beitritt der Türkei am Volkswillen vorbei durchgesetzt wird, und natürlich der Beitritt selbst. Wird der Türkei erst einmal ein Termin für Beitrittsverhandlungen genannt, wird sie die EU schneller und stärker verändern, als das heute selbst Pessimisten annehmen. Denn das Argument, man könne den Türken nicht die Mitgliedschaft verweigern, nachdem sie ihnen 40 Jahre lang "versprochen" wurde, erhält dann ein noch viel stärkeres Gewicht. Das bedeutet den Umsturz des politischen Koordinatensystems in Europa, aber auch unserer eigenen Lebenswelt. Vor den Europawahlen war davon allenfalls in minimalen Andeutungen die Rede. Wenn aber die wichtigen, wahrhaft säkularen Fragen den Wählern gar nicht erst zur Entscheidung vorgelegt werden, warum dann überhaupt Wahlen?

Das Gefühl, daß die eigene Stimme nichts zählt, sitzt bereits tief. Die Beteiligung bei den Europawahlen lag deutlich unter 50 Prozent, bei den innerdeutschen Urnengängen liegt sie nur noch knapp darüber. Zwar äußert die politische Klasse anschließend Sorge und Bedauern darüber, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Das böse Wort von der "formalen Demokratie" beschreibt präzise die Realität! Wahlen, Parteienstreit, Talkshow-Auftritte bilden eine bombastische Fassade, die den Bürger über seine Degeneration zum Stimmvieh hinwegtäuschen, ihn manipulieren soll. Mit der Eurokratie hat diese Entwicklung eine neue Stufe erreicht.

Der verheißungsvolle Begriff "Europa" ist auf das Schimpfwort "Brüssel" geschrumpft, das ein undurchschaubares Gewirr aus Kommissionen, Behörden, Ministerräten bezeichnet. Diesem Exekutivapparat steht keine Legislative gegenüber, denn das Europaparlament und seine länderübergreifenden Fraktionen sind Phantasmagorien. Das fällt nur deswegen nicht gleich auf, weil eine geschickte Regie die parlamentarische Nagelprobe stets zu vermeiden weiß. Eine europäische Öffentlichkeit, die Brüssel effektiv kontrolliert und zur Rede stellt, existiert erst recht nicht. Für die politische Klasse in Deutschland stellt dieses Vakuum eine Einladung zur organisierten Verantwortungslosigkeit und Entmündigung des Demos dar.

Demokratie heißt Informations- und Meinungsfreiheit, öffentlichen Disput über Alternativen der Problemlösung und schließlich die politische Entscheidung, die vor dem Wähler verantwortet werden muß. Wie sieht es in Wahrheit damit aus? Bei der Euro-Einführung wurde gelogen, daß sich die Balken bogen. Schlimm genug, aber harmlos im Vergleich zu den absehbaren Folgen eines Beitritts der Türkei. Der türkische Botschafter bei der EU behauptet: "Wir können versichern, daß es keine Masseneinwanderung aus der Türkei (...) geben wird. Im Gegenteil erwarten wir Zuwanderung in die Türkei, wenn sie der EU näherrückt und die Lebensbedingungen sich verbessern. Wer will in diesem Regen (in Deutschland - D. N.) leben?" Ja, und 1994 erzählte Norbert Blüm: Die Renten sind sicher!

Dem Botschafter soll man sein Geschwätz als Versuch nationaler Interessenvertretung nachsehen, doch leider läuft die Diskussion in Deutschland - von Ausnahmen abgesehen - auf ebendiesem Niveau ab. Das ist bequemer, als über die Desintegration der Türken in Deutschland, über Kosten der Zuwanderung, Sozialtransfers an Familienmitglieder in Anatolien usw. usf. Rechenschaft abzulegen. Wenn die Türkei erst einmal EU-Mitglied ist, sind die bisherigen Diskussionen über Rentenbeiträge, Staatsverschuldung und Gesundheitsversicherung schlagartig Makulatur!

Es wird beteuert, diese Politik sei "alternativlos". Die Wahnideen, die den Hintergrund für die verfehlte Einwanderungspolitik bildeten, haben sich also verselbständigt. Die politische Klasse steht unter dem Druck einer Situation, die sie selber verursacht hat. Statt nun Verantwortung zu übernehmen, Versagen zu bekennen und Konsequenzen zu ziehen, wird das neue Lumpenproletariat als innenpolitisches Argument gegen diejenigen angeführt, die vor seiner Herausbildung gewarnt haben. Die Aussage des Unternehmers Vural Öger, der für die SPD im EU-Parlament sitzt, eine Ablehnung der Türkei würde "nicht nur" in Deutschland "verheerende Folgen" haben, war gewiß nicht als Drohung gemeint, sie beschreibt die Lage. Darauf aber mit einer Vollmitgliedschaft der Türkei zu antworten, läuft auf eine Harakiri-Politik hinaus getreu dem Motto: "Je schlimmer, desto besser!"

Deutschland macht sich innenpolitisch manövrierunfähig und schränkt seine außenpolitischen Möglichkeiten weiter ein. Die Erfolge, die die EU in der Vergangenheit zweifellos hatte, verdankten sich der raffinierten Dialektik der deutschen Führungsrolle: Da war zum einen die Partnerschaft mit Frankreich als politischer Motor. Der Nachteil, in dem die geteilte, teilsouveräne Bundesrepublik sich gegenüber Frankreich befand, wurde durch die enge Abstimmung mit den kleinen EU-Ländern kompensiert, die Deutschland de facto mitvertrat. Dieses Einfluß- und Vertrauenskapital haben Fischer und Schröder mit dem Österreich-Boykott, zu dem Jacques Chirac sie verleitete, zerstört. Der andere Faktor war die D-Mark. Ein Wort der Bundesbank oder ihr bedeutungsvolles Schweigen konnte, so der britische Historiker Timothy G. Ash, europäische Regierungen in Turbulenzen stürzen. Die Bundesbank ist mit ihrer Macht stets verantwortungsvoll umgegangen. Es ist kein Zufall, daß der Beginn der EU-Sklerose auf das Jahr 1992 datiert wird, als in Maastricht die Neutralisierung der D-Mark beschlossen wurde. Seitdem kann die deutsche Politik sich nur noch auf ihre diplomatische Kunst verlassen, doch auf diesem Feld sind andere Ländern ihr überlegen.

Die Türkei wird den Zusammenhalt der Europäischen Union zusätzlich schwächen und die Dominanz der USA vergrößern. Die USA können sich dann aussuchen, mit welchen EU-Partnern sie jeweils paktieren. Und Deutschland wird den Schaden, der seinen Interessen dadurch entsteht, via Nettobeiträge selber subventionieren! Joschka Fischer hält sich für eine Mischung aus Woodrow Wilson und Talleyrand, doch objektiv ist er nur eine Marionette der US-Globalstrategen.

Und schließlich: Wo die demokratische Selbstbestimmung das Feld räumt, gibt das vagabundierende Kapital die Regeln vor. Die Menschen, politisch entmachtet, werden nach dem Motto handeln: Privat geht vor Katastrophe! - Wir werden nicht aufhören, sie daran zu erinnern, wer die Zerstörung des Gemeinwesens mit Vorsatz vorangetrieben hat.


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