© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/04 24. September 2004

Pläne der Entrüstung
Vor 60 Jahren ging es um die Vorschläge Henry Morgenthaus jun. für die künftige Behandlung Deutschlands - und was daraus wurde
Alfred Schickel

Das an "runden" Gedenktagen reiche Jahr 2004 klingt mit der Erinnerung an einen Plan aus, dessen Erwähnung hierzulande mit dem Risiko behaftet ist, absichtlich mißverstanden und in eine "bestimmte Ecke" gestellt zu werden.

Es geht um ein Papier, das US-Präsident Roosevelts amtierender Finanzminister Henry Morgenthau jun. im Spätsommer 1944 vorlegte und das den Titel trug "Vorgeschlagenes Programm für die Behandlung Deutschlands nach der Kapitulation". Die Nachwelt kennt es zumeist nur als "Morgenthau-Plan", der Deutschland vollständig entmilitarisieren und von jeder Schwerindustrie entblößen sowie das Land in verschiedene Teilstaaten zerstückeln und die Deutschen "umerziehen" wollte. Daran erinnern die nach dem Krieg durchgeführten Demontagen deutscher Fabrikanlagen und die verschiedenen "Entnazifizierungs"-Maßnahmen noch als "Auswirkungen des Morgenthau-Plans". Am nachhaltigsten hat sich aber der Vorschlag Morgenthaus eingeprägt, aus Deutschland einen "Agrarstaat" zu machen und es damit als das bisher wichtigste Industrieland Europas auszulöschen. Kritiker lasteten diese Absicht ihrem Vertreter als "Todesurteil für etwa zwanzig Millionen Deutsche" an, da mindestens so viele Deutsche vom Export lebten und dieser nach dem Abbau der Industrie nicht mehr gegeben wäre.

Morgenthau griff Pläne seines Vaters nach 1918 wieder auf

Diese und andere mögliche Folgewirkungen des Plans riefen bekanntlich dann auch heftigen Widerstand hochgestellter Amerikaner hervor. So legte Roosevelts Kriegsminister Henry Stimson in einer sechs Seiten umfassenden Stellungnahme vom 15. September 1944 entschiedenen Einspruch gegen den Plan ein. Darin schrieb er über die dem deutschen Volk zugedachte Behandlung: "Ich glaube nicht, daß eine Gruppe von siebzig Millionen ausgebildeten, tüchtigen und einfallsreichen Menschen im Rahmen eines so niedrigen Existenzminimums gehalten werden kann, wie es die Vorschläge des Finanzministeriums vorsehen." Der amtierende Generalstabschef George Marshall drohte sogar mit seinem Rücktritt, wenn die unter Morgenthaus Namen vorbereiteten Vorstellungen nach dem Krieg offizielle amerikanische Deutschlandpolitik werden sollten.

Der zunächst mit dem Plan sympathisierende Roosevelt zeigte sich von diesem Widerstand sichtlich beeindruckt. Als auch der britische Premierminister Churchill seine Bedenken vorbrachte, ging er immer mehr auf Distanz zu seinem Finanzminister. Die sich verstärkende Vermutung, daß Morgenthaus kryptokommunistischer Mitarbeiter, Henry Dexter White, die Erbitterung seines Chefs über die deutschen Kriegszerstörungen, mit der er nach einer Europareise im August 1944 wieder nach Washington zurückgekehrt war, ausgenutzt und ihm beim Entwurf seines Programms seitenweise die Feder geführt hat, ließ in einflußreichen amerikanischen Kreisen zusätzliche Skepsis gegen die Brauchbarkeit des vorgelegten Plans aufkommen.

Um sich bei der Klärung dieser noch nicht hinreichend ausgeleuchteten Eventualität nicht in pure Spekulationen zu verlieren, erscheint es hilfreich, einen Blick auf die Person Henry Morgen-thaus jun. zu werfen sowie die späteren Auswirkungen seiner zu Papier gebrachten deutschlandpolitischen Vorstellungen zu betrachten. Dabei wird deutlich, daß Roosevelts Finanzminister als Sohn des ehemaligen amerikanischen Botschafters in Ankara, Henry Morgenthau sen., mit seinem Anliegen, "to prevent Germany from starting a World War III", gleichsam auf einer Wellenlänge mit seinem Vater lag. Dieser hatte nämlich schon in einem Aufsatz der New York Times vom 20. September 1919 als Vorkehrung vor einem neuen großen Krieg eine ungleich härtere Behandlung Deutschlands angemahnt, als sie im Versailler Vertrag niedergelegt worden war. Der ältere Morgenthau sah Deutschland damals aufgrund seiner großen Einwohnerzahl, industriellen Stärke und guten Infrastruktur als "Kraftpaket" und "stark für einen weiteren Krieg". Sein Sohn sah diese Prognose offensichtlich 1939 bestätigt und fühlte sich 1944 gehalten, das 1919 Versäumte diesmal nachzuholen.

Der sowjetische "Maisky-Plan" setzte Morgenthaus Ideen um

Mit dieser Korrektur einer Unterlassung nach dem Ersten Weltkrieg stimmte Roosevelts Finanzminister im übrigen mit seinem Chef überein. Dieser hatte nämlich gegenüber dem US-Generalstabschef von 1918, John Pershing, in einem Telegramm offen bekannt, daß man in diesem (Zweiten) Weltkrieg nicht mehr die Fehler von 1918 wiederholen wolle. Damals ging es um die Frage nach Beendigung des Krieges, die Pershing erst nach einem "Durchmarsch bis nach Berlin" und nicht mit einem vorzeitigen Waffenstillstand erreichen wollte. Deutschland sollte bedingungslos die Waffen strecken müssen und sich dem Spruch der Sieger unterwerfen. Morgenthau sen. wollte mit seinen Vorschlägen vom 20. September 1919 die "Pazifizierung" Deutschlands dann noch komplettieren. Die Friedensmacher von Versailles gingen diesen Weg jedoch nicht ganz mit, sondern hielten sich noch an einen Rest von herkömmlichen diplomatischen Formen. Sie erkannten eine nationale deutsche Regierung als Vertreterin des geschlagenen Reiches an und respektierten weitgehend deren staatsrechtliche Hoheit. Mit dem Ausschluß Deutschlands von den Verhandlungen und der einseitigen Kriegsschulderklärung folgte man aber der von Henry Morgenthau sen. empfohlenen Linie.

Henry Morgenthau jun. erlebte ein Vierteljahrhundert später mit seinem 1944 vorgelegten "Program to prevent Germany from starting a World War III" aufgrund der erwähnten Einreden und Bedenken einen ähnlichen "Dreiviertel-Erfolg" wie sein Vater - nur mit dem Unterschied, daß sich Vorstellungen des Morgenthau-Plans in dem weitgehend ungewürdigten Maisky-Plan Moskaus wiederfinden. Dieser ist auszugsweise in dem Geheim-Memorandum des amerikanischen Botschafters W. Averell Harriman vom 20. Januar 1945 überliefert.

Danach sollte - wie im Morgenthau-Plan vorgesehen - Deutschland geteilt werden, eine "industrielle Entmilitarisierung" erfolgen und eine "Umerziehung der Deutschen" nach dem Kriege einsetzen. Auch der von Morgenthau/White als Wiedergutmachungsleistung vorgeschlagene Einsatz deutscher "Arbeits-Bataillone" in den Siegerstaaten und die Bestrafung der deutschen Kriegsverbrecher tauchen im Maisky-Plan wieder auf, wobei auffällt, daß Moskau jeweils abgeschwächte Strafmaßnahmen und "mildere" Sühneleistungen forderte. So sollte die deutsche Schwerindustrie nicht vollständig abgebaut werden, da "Deutschland eines Ausfuhrhandels bedarf, um benötigte Einfuhren bezahlen zu können". Desgleichen mochten die Sowjets - laut Maisky-Plan - die Deutschen nicht für "mindestens zwanzig Jahre" unter Kontrolle stellen, sondern sprachen von "zehn Jahren". Schließlich sollte Deutschland nach dem Krieg - im Gegensatz zu Morgenthaus/Whites Vorstellungen - "eine kleine Handelsschifffahrt" haben dürfen.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 wurden diese Vorschläge, hinter denen selbstverständlich Stalin stand, von Roosevelt und Churchill abgesegnet und fanden sogleich nach der deutschen Kapitulation ihre Anwendung. Dagegen erfuhren die Vorschläge und Anregungen Morgenthaus seit ihrer Erörterung im Herbst 1944 immer weitergehende Abänderungen, bis sie 1947 fast ganz ad acta gelegt wurden. Da bezogen nämlich die USA auch die drei westlichen Besatzungszonen samt West-Berlin in ihr wirtschaftliches Wiederaufbau-Programm (Marshall-Plan) ein und schufen damit günstige Bedingungen für das spätere "Wirtschaftswunder" der Bundesrepublik.

Die Deindustrialisierung dauert im Osten bis heute an

Währenddessen hatten die Sowjets Hunderttausende von Volksdeutschen aus Südosteuropa als Zwangsarbeiter nach Rußland verschleppt, ihre Besatzungszone fast ganz zum "Agrarland" gemacht und das durchgeführt, was im Morgenthau-Plan so beschrieben worden war: "Alle Besitztümer von Junkern sollen aufgeteilt und unter den Bauern verteilt werden." Diese Enteignungsmaßnahme der sowjetischen Militäradministration überdauerte bekanntlich die Wende von 1989/90 und steht bis in unsere Tage im Streit der Meinungen. Eine Bewertung des Morgenthau-Plans nach sechzig Jahren darf bei aller festgestellten Abmilderung bestimmter Vorschläge und der Würdigung des Marshall-Plans nicht übersehen, daß er den Westalliierten zwischen 1945 und 1947 immerhin diente, sich gleich nach Kriegsende der deutschen Erfindungen und Patente zu bemächtigen und sich auf diese Weise unschätzbare Reparationen vorab zu sichern.

Foto: US-Finanzminister Henry Morgenthau Jr. (M.) mit Kanadas Finanzminister J. L. Lesley (li.) und dem sowjetischen Delegierten M. S. Stepanow in Bretton Woods, Juli 1944: Nur ein "Dreiviertel-Erfolg"


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