© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/04 24. September 2004

Polemisches vom Feinsten
Essayistik: Robert Kurz' gnadenlose Abrechnung mit dem Aufklärungsdenken
Werner Olles

Seitdem die meisten linken Theoretiker, die noch solche sein wollen, den soziologischen Ballast abgeworfen haben, kommen ihre kollektiven Wahnideen und geistesgeschichtlichen Kurzschlüsse in aller Regel im Gewand der sogenannten Aufklärung und der "westlichen Werte" daher.

Zwar ist fast alles, was sich da zusammenbraut - man denke nur an die "Antideutschen" -, von nicht mehr parodierbarer Peinlichkeit, doch sind Ignoranz und Begriffslosigkeit neuen Typs durchaus nicht auf die Linke beschränkt. Wenn es darum geht, den "noch nicht einmal mehr stinkenden Leichnam des Aufklärungsdenkens" (Robert Kurz) wiederzuerwecken, fallen "links" und "rechts" zusammen. Wobei zugunsten der Konservativen gesagt werden muß, daß sie in dieser Hinsicht ohnehin nie auf der Höhe der Reflexion waren und selbst in ihren besten Zeiten höchstens nackte Lebenshilfe-Rhetorik anzubieten hatten.

Wenn Robert Kurz daher mit den "westlichen Werten", dem "vulgären Partei-Marxismus", den "Dunkelmännern der Aufklärung", der "Geschichtsmetaphysik der Moderne" und dem "geistigen Gesamtmüll des Abendlandes" abrechnet, darf man sich auf Polemisches vom Allerfeinsten freuen. Den Lesern der inzwischen eingestellten Kurz'schen Theorie-Zeitschrift Krisis sind allerdings dreiviertel der hier versammelten Essays bereits bekannt. Wer sich jedoch bisher noch nicht so intensiv mit Kurz' Thesen zur Libertinage des fleischgewordenen Wirtschaftsliberalismus, zu Deregulierung und Globalisierung und zur warenproduzierenden Gesellschaft als Einfallstor des Bösen befaßt hat, mag in der Theorie des eingefleischten Fortschritts- und Aufklärungspessimisten wesentliche Details entdecken, die man eher bei notorischen Kulturpessimisten vermuten würde. Daß dies eine schwere Täuschung ist, wird jedoch spätestens dann klar, wenn Kurz für eine "radikale emanzipatorische Antimoderne" plädiert. Doch der Autor meint damit eben gerade nicht die Flucht in die "Idealisierung irgendeiner Vergangenheit oder anderer Kulturen", sondern den radikalen Bruch mit der bisherigen Geschichte als einer "Geschichte von Fetisch- und Herrschaftsverhältnissen".

Wie der unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus, der immer mehr Mobilität und Flexibilität von den Menschen fordert, und dabei auch noch den unbeschwerten Konsumenten verlangt, funktionieren soll, bleibt jedoch einigermaßen schleierhaft. Der Verlust an Tradition und Identität, die Zerstörung der institutionellen familiären und gesellschaftlichen Sicherungen durch den Individualismus und Rationalismus, die Kurz keineswegs beklagt, all dies war die unabdingbare Voraussetzung für die Etablierung einer konsumförmig entfesselten (scheinbar) bürgerlichen Moderne. Aber Widersprüche in der Einheit von Theorie und Praxis haben Philosophen noch nie sonderlich gestört. Das ist bei Kurz nicht anders.

Wenn der Autor in dem Beitrag "Tabula Rasa - Wie weit soll, muß oder darf die Kritik der Aufklärung gehen?" an historischem Material belegt, daß die grauenhaftesten Charakteristika der kapitalistischen Kulturindustrie sich "oft ungeschminkt und unfreiwillig in den popkulturellen Imaginationen" spiegeln, kann man ihm allerdings nur zustimmen. Das wußten aber auch schon die frühen Vertreter der Kritischen Theorie und geißelten die völlige Bewußtlosigkeit ihrer bürgerlich mißratenen Kinder, die nichts als Bindungsscheu und Verantwortungslosigkeit reproduzierten. Das gipfelte schließlich in jener politiko-moralischen Verwahrlosung, die sich heutzutage bombastisch als tolerante Zivilgesellschaft feiern läßt, im Kern aber die alte Gewaltordnung und Vernichtungslogik des verwissenschaftlichten und durchstaatlichten Menschenrechtspaternalismus ist. Dagegen kann die poststaatliche Gewalt identitärer orientalischer Banden frech-fröhlich als Barbarei bezeichnet werden, ganz so als habe es Hiroshima, Dresden, Algerien, Vietnam oder die beiden Irak-Kriege nie gegeben.

Kurz macht klar, daß die "Doppelgesichtigkeit der Moderne" an ihr verdientes Ende gekommen ist. Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Menschenrechte zeigen immer offener "dieselben Züge der Entmenschlichung wie das zugrunde liegende System des kapitalistischen Verwertungsprozesses und seines Weltmarkts". Das warenproduzierende System gleitet in die "sekundäre Barbarei" hinüber, was naturgemäß besonders diejenigen überrascht, die noch in seligen Erinnerungen an ihre 68er-Drogen- und Sexorgien schwelgen. Bombenkriege im Namen von Humanität und Aufklärung waren damals so wenig vorgesehen wie Altern und Sterben. Und doch führt von der freien Konkurrenz der modernen Marktgesellschaft ein direkter Weg zu den Kampfzonen der universellen Grundsätze der Menschenrechte und Menschenwürde, die sich einmal mehr als Inkarnation der bürgerlichen Vernunft gerieren. "Aufgeklärtes Geschwätz im Endstadium" nennt Kurz diese von den Propagandisten der Realpolitik verbreiteten Morallehren der Aufklärung. Wer wollte ihm da ernsthaft widersprechen?

Karl Hofer: "Zwei Maskenköpfe", Öl auf Hartfaser 1953: Bruch mit einer "Geschichte von Fetisch- und Herrschaftsverhältnissen"

Robert Kurz: Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2004, 222 Seiten, broschiert, 12,90 Euro


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