© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/04 24. September 2004

Mit voller Kraft auf der Stelle treten
Die Debatte um die neue OECD-Bildungsstudie wächst sich zu einer sachfremden, ideologischen Diskussion aus
Thomas Paulwitz

Zu wenig Abiturienten, zu wenig Hochschulabsolventen, zu wenig Ausgaben für Bildung? Laut OECD (Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit) ist Deutschland international gesehen in allem unterdurchschnittlich. Ist Deutschland also eine Bildungs-Bananenrepublik? Diesen Eindruck könnte bekommen, wer die aufgeregte Diskussion der vergangenen Tage verfolgt hat, nachdem am 14. September die Ergebnisse der neuesten OECD-Untersuchung bekanntgegeben worden waren.

Seit dem Rummel um die Pisa-Studie 2000 wird den Bildungspapieren der OECD eine besonders hohe Beachtung zugebilligt. Über die Aussagekraft der neuen Untersuchungsergebnisse sind die Meinungen freilich geteilt. Hinzu kommt, daß sich hierzulande die Bildungsdebatte zu einer sachfremden und ideologisch geführten Diskussion um das richtige Schulsystem auswächst, die kaum noch etwas mit den wahren Herausforderungen zu tun hat, vor denen die deutsche Bildungslandschaft heute steht.

Die internationale OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" wählt für den Ländervergleich durchaus kritikwürdige Indikatoren: Hohe Ausgaben einzelner OECD-Staaten für Bildung und eine hohe Zahl an Unterrichtsstunden bedeuten nicht zwangsläufig gute Ausbildungen. Daß die Zahl der Studienanfänger eines Altersjahrganges mit 35 Prozent (2002) in Deutschland weit unter dem OECD-Durchschnitt von 51 Prozent liegt, heißt noch lange nicht, daß die restlichen 65 Prozent schlecht ausgebildet werden.

Ebensowenig lassen sich solche Rückschlüsse aus der Tatsache ziehen, daß die Zahl der Hochschulabsolventen von 19 Prozent eines Altersjahrganges unter dem OECD-Durchschnitt von 32 Prozent liegt. Diese Zahlen sagen nichts über die Qualität des Studiums und der anderen Ausbildungswege aus. Da die Struktur und die Güte der Ausbildung von Land zu Land variiert, kommt die OECD-Studie hier einem Vergleich von Äpfeln mit Birnen gleich.

Aus diesem Grund erfuhr die Untersuchung scharfe Kritik. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) bezeichnete die OECD-Zahlen als "beschränkt brauchbar und wenig aussagefähig". Lehrerverbandspräsident Josef Kraus erregte sich: "Die Art und Weise, wie die OECD alljährlich Halbwahrheiten über das deutsche Bildungswesen verbreitet, ist skandalös. Jedes Jahr werden die gleichen einseitigen Statistiken verbreitet. Und jedes Jahr wird das Herzstück des deutschen Qualifikationssystems ignoriert, nämlich die berufliche Bildung." Die in Deutschland über die duale oder eine vollzeitschulische Berufsbildung erworbene Qualifikation brauche den Vergleich mit einer Hochschulbildung vieler anderer Länder nicht zu scheuen. So gelte die Ausbildung zur Krankenschwester in anderen Ländern bereits als Hochschulausbildung. Die OECD vergleiche mit ihrer "Abiturvollkasko-Attitüde" Zahlen, die gar nicht vergleichbar seien.

Der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann (CDU) wies darauf hin, daß die Untersuchung zudem auf veraltetem Datenmaterial aus dem Jahre 2002 beruht und neuere Entwicklungen nicht berücksichtigt. Außerdem stimmen laut Busemann manche der genannten Zahlen nicht mit den eigenen Messungen überein. Nach OECD-Angaben bekommen sieben- bis achtjährige deutsche Schüler 626 Stunden Unterricht im Jahr. Deutschland liegt damit im Vergleich mit anderen Staaten im unteren Drittel (OECD-Schnitt: 752 Stunden). Busemann hingegen zählt für Niedersachsen einen Spitzenwert von 1.000 Unterrichtsstunden im Jahr.

Dem Verfasser des OECD-Berichtes, Andreas Schleicher, wirft Busemann vor, die Veröffentlichung parteipolitisch für die SPD inszeniert zu haben. Schleicher hatte die Untersuchung zusammen mit Bundesbildungsministerin Edelgard "Brain-up"-Bulmahn (SPD) vorgestellt und ist Hauptredner auf einem SPD-Landesparteitag. Bulmahn nahm das Zuspiel Schleichers auf und forderte die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, das vollständig durch die Gesamtschule ("Einheitsschule") ersetzt werden solle. Verbraucherministerin Renate Künast von den Grünen pflichtete Bulmahn bei und lobte in diesem Zusammenhang "ohne jede Ostalgie" das Schulsystem der untergegangenen DDR.

Obwohl die OECD-Untersuchung keine Aussage über die Schulsysteme gemacht hatte, entbrannte plötzlich eine Debatte um die sogenannte Einheitsschule. Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Ute Erdsieck-Rave (SPD) kündigte an, in ihrem Bundesland ein einheitliches Schulsystem bis zur zehnten Klasse einzuführen, wie es in vielen Entwicklungsländern der Fall ist. Das dreigliedrige Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium sei "in einer Demokratie nicht hinnehmbar".

Für den Thüringer SPD-Vorsitzenden Christoph Matschie paßt das gegliederte Schulsystem gar "eher zu einer mittelalterlichen Ständeordnung". Auch Eva-Maria Stange, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, tritt für die Gleichmacherei bis zur zehnten Klasse ein. Sie hält das bewährte System für "historisch überholt".

Die wohl schärfste Kritik an diesen Plänen kam von der Jungen Union Deutschlands. Ihr bildungspolitischer Sprecher Tom Zeller kommentierte: "Die Mottenkiste provinzieller Gleichheitsideologie ist wieder ganz weit geöffnet." Es verwundere, "mit welcher Ahnungslosigkeit jahrzehntelang gescheiterte Experimente, in deren Folge gerade Gesamtschulen die schlechtesten Ergebnisse bei Pisa aufweisen, ignoriert werden, um statt dessen die bildungspolitischen Debatten der siebziger Jahre zu wiederholen." Es sei unhaltbar, zu Lasten der Schüler "ideologische Lehrsätze einer in die Jahre gekommenen 68er-Generation zu exerzieren".

Auch Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, wies auf das Scheitern der Gesamtschulen hin. Er berief sich auf eine Studie des Max-Planck-Institutes. Bei Gesamtschülern sind schon vor Jahren Leistungsrückstand und schlechtere soziale Kompetenz im Vergleich zu Realschülern festgestellt worden. Dabei sind Gesamtschulen personell und finanziell um rund 30 Prozent besser als Hauptschule, Realschule und Gymnasium zusammen ausgestattet. Auch die Abbrecherquote ist an Gesamtschulen mit sieben Prozent höher als an Schulen des gegliederten Systems.

Eine Verjüngung könnte den Lehrerkollegien guttun

Eine Systemdiskussion lenkt von den zweifellos vorhandenen Problemen in der Bildungsvermittlung ab und verhindert eher die Bewältigung der bildungspolitischen Herausforderungen. Die Ausgaben für Bildung müssen ohne Frage steigen. Die Gelder dürfen aber nicht in ideologischen Gefechten verpulvert werden, sondern müssen gezielt zur individuellen Förderung der einzelnen Schüler eingesetzt werden. Das bedeutet eine bessere Qualifizierung der Lehrer, die jedoch gewiß nicht dadurch erreicht wird, daß man sie auf Fortbildungen schickt, in denen sie lernen, wie sie ihren Schülern politische Korrektheit beibringen. Das bedeutet die Verringerung der Klassengrößen durch das Einstellen von mehr Lehrern. Und es bedeutet die stärkere Berücksichtigung und Anerkennung der Verantwortung der Eltern bei der Ausbildung und Entwicklung ihrer Kinder.

Doch schon liegt die allerneueste OECD-Studie vor, die besagt, daß der Altersdurchschnitt der deutschen Lehrer zu hoch sei. Fast die Hälfte der Lehrer ist demnach über 50 Jahre alt. Eine Verjüngungskur könnte den Lehrerkollegien unter Umständen guttun; freilich weniger wegen der Aussonderung erfahrener und bewährter Lehrkräfte, sondern vielmehr deswegen, weil dann auch die Apo-Opas und Alt-68er-Ideologen an Einfluß verlören.

Bild: Denkmal Wilhelm v. Humboldts in Berlin: Visionen braucht das Land


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