© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/04 24. September 2004

Die schwache Mitte
Die jüngsten Landtagswahlen fordern die deutsche Demokratie heraus
Dieter Stein

Deutschlands Mitte erzittert. Die politischen Ränder expandieren, und das traditionelle - westdeutsche - Parteiensystem schrumpft. Als es 1966 in Bonn zur ersten Großen Koalition kam, verfügten SPD und CDU im Bundestag gemeinsam über 90 Prozent der Stimmen. Nach den jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen sollen beide Länder ebenfalls von "Großen Koalitionen" aus CDU und SPD regiert werden. Nur: Diese Koalitionen haben lediglich hauchdünne Mehrheiten. In Potsdam erhielten SPD und CDU gemeinsam 51,3 Prozent der Stimmen, in Dresden nur noch 50,9 Prozent.

Daß die für die kommunistische Diktatur der DDR verantwortliche SED in Gestalt der PDS massive Stimmengewinne verbuchen konnte, in Brandenburg und in Sachsen zweitstärkste Partei geworden ist, scheint kaum noch jemanden ernstlich zu erschüttern. Die Postkommunisten sind politisch voll etabliert, sie sind in Berlin und Schwerin angesehene Koalitionspartner der SPD, Gregor Gysi als charmantes und eloquentes Aushängeschild tummelt sich wieder in sämtlichen Talkshows - und bereitet seine Rückkehr in die Bundespolitik und den Wiedereinzug der Partei in den Bundestag vor.

Ins Mark getroffen sieht sich das politische Berlin ausschließlich durch das starke Abschneiden von DVU und NPD. Unvorbereitet traf dies die Öffentlichkeit nicht, es hatte sich seit der saarländischen Landtagswahl vom 5. September angekündigt. Dort hatte die NPD für westdeutsche Verhältnisse sensationelle vier Prozent erhalten. Demoskopen sagten das nun in Sachsen und Brandenburg eingetroffene Ergebnis überraschend präzise voraus.

Der jetzt schnell lautwerdende Ruf nach einem verstärkten "Kampf gegen Rechts" geht an den Ursachen für diese Protestwahl - und um eine solche handelt es sich - vorbei. Da es sich bei der großen Mehrheit der DVU- und NPD-Wähler nicht um ideologisch gefestigte Rechtsextremisten handelt, liegen die Ursachen woanders: nämlich in einer gravierenden Vertrauenskrise der Parteien und der Demokratie insgesamt.

So ist es bezeichnend, daß die seit Jahren rapide sinkende Wahlbeteiligung kein politisches Erdbeben auszulösen vermag. Wenn mittlerweile 50 Prozent der Wahlberechtigten sich weigern, überhaupt noch ein Wahllokal zu betreten, so ist dies ein dramatischer Vertrauensentzug sowohl für die politisch Verantwortlichen als auch für ihre parlamentarische Opposition. Es zeigt, daß die existierenden Parteien nicht mehr als Alternativen wahrgenommen werden und ihnen die Lösung anstehender Probleme nicht mehr zugetraut wird.

Wahlenthaltung ändert jedoch zunächst nichts an der Verteilung der politischen Gewichte. So schmerzt real in der parlamentarischen Demokratie politische Verantwortung tragende Parteien letztlich nur das Aufkommen neuer Parteien, die die politischen Gewichte verschieben und ein "Stück vom Kuchen" für sich und ihre Wähler reklamieren.

In den neuen Bundesländern gibt es eine noch stärker verbreitete Skepsis gegenüber dem etablierten, zudem als nicht gewachsen und als westdeutsch empfundenen Parteiensystem. Parteien der Wendezeit konnten der Konkurrenz professionell und mit Millionenetats operierender Organisationen aus Bonn ebensowenig standhalten wie die neugegründeten Zeitungen von Bürgerrechtlern, die von finanzstarken Großverlagen aus dem Westen überrollt wurden.

Auch deshalb ist die PDS als Ventil des Ostens stark, nicht nur wegen nostalgischer postkommunistischer Vorstellungen. Instinktiv erleben gerade viele Jungwähler die Konformität politischer Aussagen von SPD bis CDU in wesentlichen Fragen: Sei es die in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien als besonders bedrohlich empfundene Osterweiterung der EU, die Einwanderung, der noch nachhaltende Schock der Aufgabe der D-Mark für den Euro und an erster Stelle die Massenarbeitslosigkeit und der Umbau der Sozialsysteme unter dem Schlagwort "Hartz IV".

Gerade in diesen Tagen werden wieder von großen Zeitungen den durch Montagsdemonstrationen und Protestwahl aufsässig werdenden "Ossis" die Milliardensummen um die Ohren gehauen, die seit 1990 als Transferleistungen in die neuen Länder geleitet worden sind. Als ob es bei der deutschen Einheit nur um Geld ginge! Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme liegen auf der Hand - doch warum wird dann nicht noch stärker PDS gewählt?

Warum wählen die Brandenburger mit 6,1 Prozent eine DVU erneut in den Landtag, die eine pure Phantompartei eines gerissenen Geschäftsmanns aus München ist? Warum wird in Sachsen sogar eine NPD mit 9,2 Prozent in den Landtag gewählt, der man unwidersprochen vorwerfen kann, eine rechtsextreme, verfassungsfeindliche Partei zu sein?

Kurt Biedenkopf traf den Nagel auf den Kopf, als er das Wahldebakel für die Volksparteien und den Sieg der NPD analysierte: Ein zentrales Problem sei, daß der Prozeß der deutschen Einheit zu sehr "ökonomisiert" worden sei. "Das hat mit der Reduktion auf das Ökonomische zu tun, und dem fühlen sich die Menschen ausgeliefert. Und wenn sie jetzt mit den Maßstäben bewertet werden, können sie gar kein Selbstbewußtsein entwickeln. Wir sind ja im Augenblick dabei, den Leuten den letzten Rest von Anlaß zu nehmen, stolz auf das zu sein, was sie gemacht haben."

So verurteilt Biedenkopf die Wähler nicht für ihre Protestwahl, sondern lobt sie ausdrücklich für ihre demokratische Strafaktion: "Ich finde das gut, daß die sich gewehrt haben, und ich wünsche mir, daß die beiden Volksparteien Schlußfolgerungen daraus ziehen und nicht in erster Linie jetzt die Wähler dafür verantwortlich machen, daß sie reagiert haben auf eine falsche Art und Weise der Reformen, die unser Land braucht."

Die meisten Bürger wollen sich mit ihrer Gemeinschaft, ihrem Volk, ihrem Staat identifizieren. Solidarität appelliert an ein Gemeinschaftsgefühl, im Staat findet dies seinen Ausdruck in einem selbstverständlichen und stolzen Patriotismus.

Nur im Namen eines solchen Zusammengehörigkeitsgefühls sind Bürger bereit, Belastungen zu ertragen - von Solidaritätszuschlag bis zu realem Lohngefälle zwischen Ost und West. Doch welche "Vorbilder" haben junge Leute vor der Nase? Michael Schumacher, der vor der Steuer ins Ausland flüchtet? Unpatriotische "Global Player" wie Ex-Mannesmann-Chef Klaus Esser oder Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, der den Satz prägte: "The Deutsche Bank is not a German bank"? Oder Umweltminister Jürgen Trittin, der nach der Vereidigung des Bundespräsidenten, Hände in den Hosentaschen, sich weigert, die deutsche Nationalhymne mitzusingen?

Wo findet denn deutsches Gemeinschaftsgefühl seine Artikulation? Die Menschen wollen eine Antwort auf die "nationale Frage". Die politische Mitte antwortet: "Europa", die PDS antwortet: "Internationalismus" - und die "Rechten"?

Wenn die Demokratie Vertrauen zurückgewinnen soll, dann muß sich die Gesellschaft zugänglicher erweisen für Kritik, als dies bisher der Fall ist. Auch deshalb wird sich das unsouveräne Verhalten gegenüber Vertretern von DVU und NPD am Wahlabend als Bumerang erweisen. Selbst die linke taz vermerkte verbittert: "Mit ihrer aggressiven und undemokratischen Machtdemonstration haben die Öffentlich-Rechtlichen diesen Wählern zumindest dieses demonstriert: Im Ernstfall gelten uns demokratische Regularien und bürgerliche Umgangsformen wenig; höflich sind wir nur zu den Mächtigen."

Wie undurchlässig und verrammelt zeigen sich die Kartelle in Politik und Medien bereits gegen gemäßigte kritische Quereinsteiger und unabhängige Köpfe! Wie immer gleich sind die Talkshows und Podien besetzt, und wie verschwindend selten sind zivilisierte, konstruktiv polarisierende Debatten von links bis rechts! Den Nachhall, den die undemokratischen Kampagnen gegen Martin Walser, Jürgen W. Möllemann und Martin Hohmann ausgelöst haben, hat das Publikum noch im Ohr.

Wie arrogant und intolerant reagiert die politische Klasse auf Gehversuche alternativer Parteien - vom nationalliberalen Bund Freier Bürger, Republikanern bis Schill-Partei! Wie sehr wird geradezu auf den Ausschluß, die soziale Erledigung des Andersdenkenden hingearbeitet! Insofern ist es womöglich konsequent, daß schlußendlich einmal eine Partei mit Aplomb auf den Plan tritt, die jede Diskussion beenden will und offen "das System" zum Feind erklärt hat: die NPD.

Damit ist die NPD nun ein klares Symptom der Krise der deutschen Demokratie. Wütende und hoffnungslose Bürger sehen keinen anderen Ausweg mehr und machen mit der Wahl dieser Partei ihren Sorgen Luft.

Die NPD aber bietet anstelle eines notwendigen und gesunden Patriotismus eine Farce, eine traurige schwarz-weiß-rote Karikatur des Nationalen. Mehr denn je ist sie in ihrem harten Kern ein Transmissionsriemen einer bizarren neo-nationalsozialistischen Subkultur. Ihre Nähe zum Dritten Reich muß man nicht entlarven, sie bekennt sich ungeschminkt dazu, wie das Gespräch dieser Zeitung mit dem NPD-Chef Udo Voigt zeigt (siehe Seite 3 und Kommentar auf Seite 2). So wird die Sehnsucht jetzt von der NPD angezogener junger Deutscher, die sich mit ihrem Land identifizieren wollen, mißbraucht und ins Lächerliche gezogen. Dennoch stellt sich mit der NPD für die Demokratie die nationale Frage mehr denn je. Anstelle ritualisierter Ächtung muß diese Frage inhaltlich beantwortet werden.


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