© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/04 17. September 2004

Die Wurzel des Hasses
von Ulrich Beer

Was ist der tiefere Wurzelgrund, auf dem kriegerische und terroristische Gewalt gedeiht? Sicher ist: Die Wurzeln greifen tiefer als ökonomische Interessen- oder ideologische Glaubensdifferenzen, tiefer als der Streit um historische Grenzziehungen auf veralteten Landkarten, aber auch als ethnische oder rassische Unterschiede. Sind diese wirklich real? Sind gerade in dem Völkergemisch von Balkan, Kaukasus oder Mitteleuropa solche Unterscheidungen real, die man als folkloristische Vielfalt froh akzeptiert hatte und die nun, aggressiv zugespitzt, gegeneinander ausgespielt werden? Der Nationalismus - das gilt nicht für ein natürliches selbstverständliches Nationalgefühl - ist ein Verzweiflungsprodukt, ein Lückenfüller für ein geistiges und religiöses Vakuum, eine Trotzreaktion der kollektiven Angstbeschwörung von Gruppen, die der sozialen Existenzangst nur aggressiv beizukommen meinen.

In der Welt des Scheinens und Meinens sind denn auch die Wurzeln von Haß und Aggression, Abwertung und Diskriminierung zu suchen. Wir nennen diese kollektiven Einstellungen "Vorurteile". Wir alle haben sie, und das muß nicht unbedingt gefährlich sein, wenn man unter Vorurteil nur eine Meinung versteht, die bei besserer Erkenntnis korrigiert werden kann.

Das Vorurteil entspringt dem Grundbedürfnis des Menschen nach sicherer Orientierung. Heißen die Maßstäbe der Orientierung im rationalen Bereich Richtig und Falsch und sind kontrollierbar und verifizierbar, so fühlt man sich irrational sicher oder unsicher, ängstlich oder vertrauensvoll. Anerkennung und Argwohn sind nicht so leicht durchschaubar und überprüfbar. Ihr hoher Gefühlsanteil und ihre starke Interessenbedingtheit geben ihnen eine enorme Bedeutung für die persönliche und soziale Existenz. Der Mensch ist davon abhängig, mit einer Gruppe zu leben, der er sich zugehörig fühlt. Dieses Gefühl steigert er oft durch die Abgrenzung von Gruppen, die er mit mißtrauischen oder gar feindseligen Gefühlen betrachtet. Diesen Gefühlen dienen die Vorurteile. Was Gemeinsamkeiten mit uns aufweist - gleiche Eigenschaften, ähnliches Aussehen, gemeinsame Interessen -, belegen wir mit positiven Vorurteilen. Diese erstrecken sich auch auf Bereiche, die über die bekannten Gemeinsamkeiten hinausgehen. Die Sozialpsychologie nennt dies den "Mondhofeffekt". Wenn ein Mensch oder eine Menschengruppe erst einmal unsere Sympathie erworben hat, tauchen alle Merkmale derselben in ein helleres Licht. Antipathie bewirkt das Gegenteil. Um unsere Feindseligkeit, ja Haß und Verfolgung auszulösen, genügt es, daß der andere anders ist. Oder richtiger: andersartig, denn das einfache Anderssein empfinden wir oft als eine reizvolle Variante im bunten Blumengarten Gottes. Nur muß sich dieses Anderssein in Grenzen halten, die durch unsere Eigenart, unsere Optik und unsere Interessen bestimmt sind.
Das Vorurteil entspringt dem Grundbedürfnis desMenschen nach fester Orientierung. Heikel wird diese Orientierungssuche im emotionalen Bereich. Wer Angst hat oder liebt, kann nicht mehr gerecht urteilen.

Wir sind bereit, die Unterschiede zwischen Westfalen und Rheinländern oder Franken und Schwaben zu vergessen oder sogar als erfreulich zu empfinden, wenn wir davon ausgehen können, daß beide sich als Deutsche fühlen - wenn also der Unterschied auf dem Hintergrund von Gemeinsamkeiten besteht. Auch Unterschiede zwischen den europäischen Völkern sind wir inzwischen bereit, durch Solidaritätsgefühle zu überwinden. Auch noch die Menschheit als Gemeinschaft zu verstehen, ist für die meisten Menschen schwer bis unmöglich.

Schon die Völker des Altertums kannten Vorurteile. So bezeichneten die alten Ägypter Leute, die nichtägyptisch sprachen, mit einem Wort, das übersetzt "nicht ganz Mensch" bedeutet. Für die Griechen waren die übrigen Völker Barbaren, was eine lautmalerische Bezeichnung für unverständliches Gemurmel ist. Für die alten Athener galten die Böoter als dumm, die Kreter als lügnerisch. Ein Vorurteil besteht meistens nicht ganz ohne Grund, aber es ist auch selten gerecht. Es erfüllt das Bedürfnis nach einem Fremden, von dem man sich vorteilhaft abheben und auf den man eigene Schuldgefühle projizieren kann. Insofern wird das Objekt des Vorurteils zum "Sündenbock". Im Dritten Buch Moses finden wir den Ursprung dieser Bezeichnung: "Am Tage des Versöhnungsfestes wurde ein lebender Bock durch das Los bestimmt, und der Hohe Priester, in leinene Gewänder gehüllt, legte seine beiden Hände auf das Haupt des Bockes und beichtete über dem Bock die Missetaten der Kinder Israels. Nachdem die Sünden der Bevölkerung auf diese Weise symbolisch auf das Tier übertragen worden waren, wurde es in die Wildnis hinausgeführt und seinem Schicksal überlassen. Das Volk fühlte sich gereinigt und frei von Schuld."

Das Schicksal der Juden ist das furchtbarste Beispiel für die Auswirkung von Vorurteilen in der Geschichte. Es geht zurück bis auf den Untergang des jüdischen Staatswesens um 586 v. Chr. Seitdem leben die Juden über viele Länder der Erde verstreut. Die verlorene staatliche Einheit machten sie wett durch ein ausgeprägtes Gruppenbewußtsein und einen inneren Zusammenhalt, der den Gastvölkern verdächtig gewesen ist und sie zu Außenseitern stempelte. So wurden schon im Konzil von Nicaea im Jahre 325 n. Chr. Ehen zwischen Christen und Juden verboten. Um 1400 mußten die Juden in Gettos übersiedeln, und gegen 1600 entstand die Legende vom ewigen Juden, der zur Strafe für seine an Jesus begangene Schuld zu ewiger Unstetheit verurteilt ist. Antisemitismus gibt es in allen Kulturstaaten, aber in Deutschland war die Verfolgung besonders unmenschlich. So durften in manchen Ländern des Reiches Juden weder Grund und Boden haben noch in die Zünfte aufgenommen werden noch Beamte oder Soldaten sein. Naturgemäß konzentrierten sie sich auf die freien Berufe und brachten es als Ärzte, Anwälte und Händler zu entsprechenden Erfolgen. Daraufhin wandelte sich das Vorurteil, und aus den Juden wurde ein "schmieriges Krämervolk" ohne bodenständige und vaterländische Gesinnung.

Treffen Vorurteile nicht verfolgte Minderheiten, sind sie meistens noch erträglich, wie die zwischen Fußgängern und Autofahrern, Norddeutschen und Süddeutschen.
Solange etwa Männer und Frauen zahlenmäßig und ihrem Rechte nach einigermaßen ausgeglichen sind, sind die gegenseitigen Vorurteile ungefährlich. Dann mögen Männer die Frauen für dümmer und beeinflußbarer, Frauen die Männer für rechthaberisch und unsensibel halten. Erst wenn ungleiche Verhältnisse - Besetzung der Schlüsselstellungen durch Männer etwa - herrschen, wirkt sich dies wirklich diskriminierend aus. Ähnlich ist es mit den konfessionellen Vorurteilen. So gelten Katholiken oft als doktrinär und heuchlerisch, Protestanten als oberflächlich und materialistisch. Erst ungerechte Verhältnisse wie in Nordirland bewirken die Steigerung schlafender Vorurteile bis zu Diskriminierung und gegenseitiger Vernichtung.

Neben Angst und Unsicherheit spielt auch der Neid eine beachtliche Rolle bei der Bildung negativer Vorurteile. So waren die chinesischen Einwanderer in Amerika in den ersten Jahren sehr beliebt als Hilfskräfte, solange sie sich mit der Rolle von Schuhputzern, Tellerwäschern, Straßenkehrern und Hotelboys begnügten. Erst als sie auf den Arbeitsmarkt der besser bezahlten Berufe strömten, wandten sich die Vorurteile der weißen Amerikaner gegen sie und stempelten sie als falsch, verschlagen, primitiv und heimtückisch ab. Dabei waren sie im allgemeinen nur fleißiger und entsprechend erfolgreicher.

Kinder sind noch nicht fest geprägt, ihre Wahrnehmung ist unbefangen. Die in China aufgewachsene US-Schriftstellerin Pearl S. Buck berichtet, wie sie ihr Kind fragt, wer da an der Tür ist. Das Kind weiß es nicht. So fragt sie, ob es ein Weißer oder ein Farbiger sei: Das Kind antwortet: "Ich weiß nicht, ich habe nicht gefragt." Was Kinder an Unterschieden bemerken, haben sie meist von ihrer Umwelt übernommen.

Wie nachteilig sich Vorurteile für die Erziehung auswirken, zeigt eine von Klaus Horn berichtete Geschichte: "Es war in der Straßenbahn abends zwischen fünf und sechs Uhr. Es gab keine Sitzplätze mehr. An einer Haltestelle stiegen zwei Damen ein, denen man ansah, daß sie sich gerne setzen wollten. Gerade als sich vier junge Leute entschlossen hatten, gemeinsam aufzustehen, begann die eine der Damen in recht unwürdiger Weise auf die 'Halbstarken', wie sie die jungen Leute nannte, zu schimpfen. Die vier blieben demonstrativ sitzen, nachdem sie sich kurz angeschaut hatten, und unterhielten sich nunmehr, da ihr Selbstbewußtsein einer Stärkung bedurfte, lauter und ungenierter als vorher."

Vorurteile haben eine Tendenz zur Ausweitung. Eine große Zahl von Untersuchungen, vor allem aus Amerika und Großbritannien, ergab, daß bestimmte Personengruppen besonders zu Vorurteilen neigen. So glauben Antisemiten, daß die Farbigen schon von Natur aus den Weißen unterlegen sind, daß Kriegführen nun einmal in der Natur des Menschen liege, daß Verbrecher nicht streng genug behandelt werden, daß Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen Landesverräter seien und entsprechend behandelt werden müßten, daß im Schulunterricht keine sexuelle Aufklärung erteilt werden dürfte, daß Frauen Männern intellektuell unterlegen seien und daß die Todesstrafe keineswegs barbarisch sei und darum auch nicht abgeschafft werden sollte, und schließlich, daß in fünfundzwanzig Jahren ein weiterer Krieg stattfinden werde. Vorurteilsbündel dieser Art werden vorzugsweise von Persönlichkeiten entwickelt, die man mit einem nicht ganz glücklichen Wort als "autoritären Charakter" bezeichnet hat.

Dies ist vor allem in benachteiligten Sozialschichten der Fall, die unter dem Überdruck ihrer sozialen Deklassierung leiden, ohne sich dagegen auflehnen zu können. Die Aggressionen, die eigentlich gegen die Mächtigen gerichtet sind, werden umgebogen und gegen die Wehrlosen gelenkt, weil sie sich sonst schaden würden. So haben gerade die bedrohten Sozialschichten immer wieder die Neigung, Minderheiten als Sündenböcke zu suchen, vor allem dann, wenn sie von Demagogen in diesem Bedürfnis unterstützt werden. Darum ist eine Besserung der Verhältnisse dieser Welt von einer Überwindung der Vorurteile abhängig. Sie bilden die Nahtstelle, an der die Gesellschaft auf den Menschen und der Mensch auf die Gesellschaft wirkt. Deshalb haben sie eine Schlüsselfunktion im sozialen Erziehungs- und Lernprozeß.

Moralisch verfolgt werden Vorurteile nur dann, wenn sie mit den geltenden Konventionen nicht übereinstimmen. Sonst gelten sie selbstverständlich und unbefragt und werden den meisten Menschen gar nicht bewußt.

Wenn man sich die Aufgabe der Überwindung von Vorurteilen stellt, muß man sich vor leichtfertigem Optimismus hüten. Die Vorurteilsforschung legt die irrationalen Wurzeln bloß und stellt damit die Möglichkeiten rationaler Widerlegung in Frage.

Ein Beispiel dafür, daß gründliche Information dazu beitragen kann, Vorurteile zu überwinden, wurde nach dem Krieg aus dem State Department, dem Außenministerium der USA, bekannt. Dort war eine Kommission zum Studium der Fragen des Marxismus und der inneren Verhältnisse der Sowjetunion während des Krieges an die Arbeit geschickt worden. Die Kommission mußte nach einiger Zeit abgelöst werden, weil sie durch intensives Bemühen um die Probleme zu so positiven Einstellungen zum Gegner gekommen war, daß dies für die Kriegführung untragbar erschien. Dies ist zugleich ein Beispiel dafür, daß Vorurteile häufig offiziell erwünscht sind und künstlich am Leben gehalten werden.

Schließlich sind Vorurteile auch eine Sache der Erziehung. Hat sie nicht allzusehr die Charakterbildung, die sozialen Einstellungen, die Rücksichtnahme auf den anderen zugunsten intellektueller Dressur und beruflichen Karrieredenkens vernachlässigt? Nur die gegenseitige Achtung garantiert das Klima, in dem der Mensch sich menschenwürdig entwickeln kann. Achtung ist aber immer nur dann verwirklicht, wenn sie dem anderen zubilligt, was man selbst für sich erwartet.
Alle Menschen sind gleich viel wert. Das sollte ein Kind von früh an erfahren. Es gibt keine bösen Straßenkinder, mit denen es nicht spielen darf. Kinder, die anders sprechen und anders aussehen, sind als Spielkameraden ebenso erwünscht. Auch häßliche, schmutzige Kinder oder solche, die einer anderen sozialen Schicht angehören, werden nicht schlechtgemacht oder zu Fremden erklärt. Normalerweise sind Kinder bereit, grundsätzlich alle anzuerkennen und auch die Andersartigen als Partner ernst zu nehmen.

Hier dürfen wir uns von den Worten Jesu beschämen lassen: "So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich Gottes kommen." Es ist lebenswichtig, sich gerade heute immer aufs neue von der Botschaft der Bergpredigt ergreifen zu lassen. Sie spricht jeden Menschen an, in West und Ost, in Nord und Süd, auf der rechten oder linken Seite des Spektrums. Nach ihr ist es an den Menschen, die Welt zu bauen, die den Frieden bedeutet und die ersehnte Gerechtigkeit bringt.

Und wir Deutschen? Im "Hyperion" hat Hölderlin seinen Landsleuten den Spiegel vorgehalten: "Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden". Positiv hat dagegen Schiller unsere nationale Aufgabe formuliert:
 

"Das ist nicht des Deutschen Größe,
Obzusiegen mit dem Schwert.
In das Geisterreich zu dringen,
Vorurteile zu besiegen,
Männlich mit dem Wahn zu ringen,
Das ist seines Opfers wert."

 

Prof. Dr. Ulrich Beer, Jahrgang 1932, Psychologe, Lehrtätigkeit in Tübingen, Reutlingen und Heidelberg. Einem Millionenpublikum ist Beer als langjähriger Kommentator der ZDF-Serie "Ehen vor Gericht" vertraut.

Foto: Eine verwundete Geisel wird aus dem Bereich der belagerten Schule in Beslan in Nordossetien getragen: Spätestens bei der medizinischen Versorgung sind Herkunft und Überzeugung eines Menschen völlig gleichgültig.


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