© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/04 17. September 2004

Bundespräsident
Nation und soziale Frage
Dieter Stein

Für erheblichen Wirbel sorgte in dieser Woche Bundespräsident Horst Köhler durch ein Gespräch mit der Zeitschrift Focus. Eine scheinbar harmlose Äußerung löste einen Sturm der Empörung aus. Die "anstößige" Passage aus Focus lautet wörtlich:

"Focus: Müssen wir nicht nach 15 Jahren Einheit so viel Ehrlichkeit aufbringen, den Menschen beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern zu sagen: Dort wird sich nie wieder Industrie ansiedeln?

Köhler: Solche Prognosen kann niemand seriös abgeben. Aber unabhängig davon gab und gibt es nun einmal überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Das geht von Nord nach Süd wie von West nach Ost. Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf. Wir müssen wegkommen vom Subventionsstaat. Worauf es ankommt, ist, den Menschen Freiräume für ihre Ideen und Initiativen zu schaffen."

Zitiert wurde er aber - für die deutsche Debattenkultur typisch - verkürzt, er wolle den Aufbau Ost aufgeben, das Boulevardblatt Berliner Kurier ernannte ihn schon zum "Präsident aller Wessis".

Bei den jüngsten "Montagsdemonstrationen" diente Köhler prompt als Projektionsfläche für den Anti-Hartz-Protest. Trotz hysterischer Übertreibung hat diese Empörung aber einen berechtigten Kern: Viele Deutsche spüren, daß ein Klima der Entsolidarisierung herrscht und das soziale Gemeinschaftsgefühl der Nation der anonymen "Globalisierung" geopfert zu werden droht. Erfahrungsgemäß sind Bürger durchaus bereit, schwere Belastungen zu tragen, wenn sie wissen, daß diese dem Gemeinwohl dienen. Auch der kleine Reform-Schritt "Hartz IV" wäre leichter zu verdauen, wenn den Betroffenen klar wäre, daß dies die Gemeinschaft voranbringt und daß es sich um eine kollektive, nationale Kraftanstrengung handelt. Doch ist dies wirklich der Fall?

Was ist denn überhaupt das "Gemeinwohl" in einem Land, das in mehrfacher Hinsicht in einem riesigen sozialen und politischen postnationalen Transformationsprozeß steckt, am Fließband Kompetenzen nach Brüssel delegiert, ständig neue, undurchschaubare "internationale Verpflichtungen" insbesondere finanzieller Natur eingeht, das sich inzwischen zum faktischen Einwanderungsland erklärt und die Folgen der kaum kontrollierten Migration über den Sozialstaat milliardenschwer vergesellschaftet?

Der Unmut über diese grassierende Entsolidarisierung, die Unfähigkeit, den Bürgern reinen Wein einzuschenken, bricht sich nun in der Protestwahl - nicht zum ersten Mal! - Bahn. Übrigens kanalisieren rechtsgerichtete Parteien wie NPD und DVU den Unmut lediglich auf demselben populistischen Niveau, das des Kanzlers Lieblingsmassenblatt, die Bild-Zeitung beim Thema Reformen ständig vorexerziert. Mit "Schnauze voll - DVU" oder "Hartz IV - Die Quittung. NPD" wird nun den Wählern auch eine Möglichkeit gegeben, in der Wahlkabine zünftig Dampf abzulassen. Dies wird so bleiben, solange sich die Politik nicht dem Thema "Nation und soziale Frage" stellt.


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