© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/04 10. September 2004

Epoche der Entpolitisierung
von Jost Bauch

Daß die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe notwendig und sparsam ist, mag sein. Daß sie neue Arbeitsplätze schafft, glaubt wohl nur SPD-Generalsekretär Müntefering. Arbeitsplätze kann nicht der Staat schaffen, sagt Bundeskanzler Schröder ganz deutlich, sie entstehen vielmehr aus den Aktivitäten der Wirtschaft. Wenn dieses "natürliche Wachstum" aber ausbleibt, zumindest zeitweise, was geschieht dann mit den Ansprüchen der Betroffenen? Wie die "Montagsdemonstrationen" zeigen, fallen sie doch wieder auf den Staat zurück.

Die soziale Funktion des Staates ist nicht etwa bloß ein Erbe der DDR. Auch im Westen gilt es längst als selbstverständlich, daß die organisierte Gemeinschaft die Aufgabe hat, soziale Notlagen auf- oder besser noch rechtzeitig abzufangen. Der Wohlfahrtsstaat ist die große politische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Dahinter steht nicht bloß unreflektierte Begehrlichkeit, sondern eine ganze Weltanschauung.

Zur Bezeichnung der Funktion des Staates im Nachkriegsdeutschland hat Arnold Gehlen in seinem 1969 erschienenen Werk "Moral und Hypermoral" die Allegorie von der "Milchkuh" gebraucht: "So nimmt der Leviathan mehr und mehr die Züge einer Milchkuh an, die Funktionen als Produktionshelfer, Sozialgesetzgeber und Auszahlungskasse treten in den Vordergrund, und man hat dem humanitär-eudaimonistischen Ethos die Tore so weit geöffnet, daß das eigentlich der Institution angemessene Dienst- und Pflichtethos aus der öffentlichen Sprache und aus den Kategorien der Massenmedien vollständig verschwunden ist und dort nur noch Gelächter auslöst." An anderer Stelle formuliert er in Anlehnung an Ernst Forsthoff, "daß die sozialstaatlichen Elemente der Umverteilung und die Implikationen der Daseinsvorsorge ein eindeutiges Übergewicht über die politische Herrschaftsstruktur des Staates haben. Sie binden den Staat in toto an das Sozialprodukt und damit an die wirtschaftliche Prosperität. Diese Bindung steht aller staatlichen Politik nach außen wie nach innen voran. Sie schlägt durch als Zwang zur Vermeidung von Risiken und ist damit ein wesentlicher Grund für den fortschreitenden Immobilismus."

Diese Formulierungen haben es in sich. Sie zeigen auf, daß der Staat als politische Organisationsform nach dem Krieg seine eigene Dignität verloren hat, er wurde zum Diener der Gesellschaft. Seine einzige (!) Aufgabe besteht darin, die Prosperität der Gesellschaft in einem durchaus materiellen Sinne zu organisieren. Der Staat wurde gleichsam "vergesellschaftet", war und ist bis heute nur als Sozial- und Wohlfahrtsstaat denkbar. Natürlich ist es nach Gehlen, worauf Karlheinz Weißmann in seiner exzellenten Biographie hinweist, auch Aufgabe des Staates, das Wohlergehen im Sinne von Daseinsvorsorge seiner Bürger im Blick zu haben. Aber die Aufgabe des Staates erschöpft sich in dieser Wohlfahrtsfunktion nach innen nicht, dies wäre lediglich eine "überdehnte Hausmoral" als Staatsethos.

Gehlen redet in "Moral und Hypermoral" Tacheles: "Seit der Antike bezeichnet das Wort 'Staat' ein Gebilde, dessen Sinn letzten Endes nur als rational organisierte Selbsterhaltung eines geschichtlich irgendwie zustande gekommenen Zusammenhangs von Territorium und Bevölkerung bestimmt werden kann ... Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation, sich überhaupt als eine so verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist sie nicht geglückt."

Geschützt und behütet durch die atomare Käseglocke der USA (Cora Stephan) konnte nach dem Kriege der nach innen gerichtete Ausbau des Wohlfahrtsstaates zur dominanten Staatsfunktion in der Bundesrepublik werden. Die traditionellen anderen Staatsfunktionen, die im wesentlichen mit der Selbsterhaltung nach außen in Zusammenhang stehen, wurden an die Supermacht USA sowie an die Nato delegiert. Damit war der Weg frei für eine grundlegende Vergesellschaftung des Staates. Der Staat legitimierte sich nicht mehr über seine genuin politische Funktion des Selbsterhalts einer Nation (einer Bevölkerung in einem Territorium), er legitimierte sich fast ausschließlich über seine Wohlfahrtsfunktion nach innen. Von Vergesellschaftung des Staates läßt sich in diesem Zusammenhang reden, weil er damit abhängig wurde von wirtschaftlicher Prosperität und der damit einhergehenden "konsumptiven Legiti-mationshaltung" (Habermas) der Bevölkerung.

Der Staat war damit befaßt, die Konjunkturzyklen durch antizyklisch wirkende Wirtschaftsförderprogramme (Keynes) auszugleichen und die Bedürfnisse nach Daseinssicherung und Daseinssteigerung der Bevölkerung durch sozialstaatliche Maßnahmen abzusättigen. Der Staat verstand sich "gemeinwohlorientiert" als Wirtschaftsförderungsagentur und Wohlfahrtsgarant, er hat sich damit weitgehend "entpolitisiert". Wir können auch formulieren, der Staat hat seine traditionellen "Kernfunktionen", die im Zusammenhang mit seinem Selbsterhalt nach innen wie außen stehen, weitgehend abgelegt (weil diese durch die europäische Einigung und die Integration in die Nato als obsolet erschienen) und sich zunehmend und fast ausschließlich mit den von ihm selbst oder der Bevölkerung antizipierten unerwünschten Folgen der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft befaßt. Mit sozialstaatlichen Interventionen reagierte er auf stratifikatorische und beschäfti-gungspolitische Effekte des Wirtschaftssystems, auf ökologische Gefährdungen reagierte er mit dem Ausbau des Umweltschutzes, auf gesundheitliche Gefährdungen mit dem entsprechenden Ausbau der gesundheitlichen Versorgung. Er hat sich bis zur Erschöpfung seiner materiellen und immateriellen Ressourcen mit dem Regulierungsanspruch der gesellschaftlichen Selbstgefährdungen völlig in gesellschaftspolitische Aufgaben verstrickt.

Wenn wir von der Entpolitisierung des Staates sprechen, so gelingt das nur vor der Folie eines "emphatischen" Politikbegriffs. Denn wenn der Staat sich um Kleinregelungen wie die Novellierung des Mieterschutzes oder Verordnungen zur Massentierhaltungen kümmert, so ist das sicherlich keine große Politik, das ist politische Administration. Auffallend ist, daß die großen politischen Entscheidungen ohne große politische Debatten hinter dem Rücken der Bürger gefällt wurden: Ob Deutschland ein Zuwanderungsland ist oder nicht, ob die D-Mark abgeschafft wird, ob die EU erweitert wird, diese essentiellen Entscheidungen standen in der politischen Debatte nicht wirklich zur Disposition, sie kamen über uns fast wie Naturereignisse.

Die administrative Umsetzung dieser Entscheidungen wird dafür um so mehr politisch diskutiert, seien es Nuancen des Ausländerrechts oder Feinheiten Brüsseler Agrarverordnungen. Hier zeigt sich, daß der Staat offenbar verlernt hat, mit großen politischen Themen umzugehen und diese nach politischen Debatten im politischen System und in der Gesellschaft einer öffentlich nachvollziehbaren Entscheidung zuzuführen. Dafür verstrickt er sich um so mehr in administrative Regelungen und in die Nachregulierung einer Regulierung. Solchermaßen entpolitisiert sich die Politik und da, so die Analyse von Thomas Meyer, die wesentlichen politischen Sachverhalte nicht mehr in die Lebenswelt der Bürger transformiert werden können, werden die Restinhalte der Politik durch mediale Inszenierung "intimisiert": "Diese Verengung des Öffentlichen auf die Maßeinheiten privater Personenverhältnisse, Handlungsformen und Bewertungsmaßstäbe entzivilisiert das öffentliche Leben, weil am Ende an den öffentlichen Akteuren nur noch das Motiv und die Lebensführung interessieren und nicht die politischen Handlungsziele und Aktionsformen."

Zur Bestimmung des Politischen kann auf Carl Schmitt zurückgegriffen werden, der bereits 1932 in seinem Klassiker "Der Begriff des Politischen" aufzeigte, daß sich das Politische nach eigenen Kriterien konstituiert und sich damit von anderen sozialen Sachgebieten wie dem Moralischen, Ästhetischen oder Ökonomischen als relativ eigenständiges Sachgebiet der gesellschaftlichen Selbstorganisation abhebt. Die Kernsätze Carl Schmitts lauten: "Das Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politisches Handeln zurückgeführt werden kann. Nehmen wir an, daß auf dem Gebiete des Moralischen die letzten Unterscheidungen gut und böse sind, im Ästhetischen schön und häßlich, im Ökonomischen nützlich und schädlich oder beispielsweise rentabel oder nicht rentabel ... Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind."

Mit der Freund/Feind-Formel hat Carl Schmitt bereits in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die spezifische Codierung des politischen Systems entdeckt, die in den Siebzigern von Niklas Luhmann in gleichzeitiger Anlehnung an und Abgrenzung von Carl Schmitt als "Macht haben/keine Macht haben" neu spezifiziert wurde. Codierungen markieren die grundlegende Erkennungsformel von Funktionssystemen und ermöglichen damit rekursive Kommunikationsprozesse von sozialen Systemen, die sich funktional voneinander ausdifferenziert haben. Codierungen sind gleichsam letzte Unterscheidungen von sozialen Systemen, auf die sich alle Operationen eines Systems beziehen und somit ermöglicht werden, so "zahlen/nicht zahlen" für das Wirtschaftssystem, "Recht/Unrecht" für das Rechtssystem, "wahr/unwahr" für das Wissenschaftssystem, "krank/gesund" für das Gesundheitssystem und eben "Macht haben/keine Macht haben" für die Politik.

Aus humanitär-liberaler Sicht ist die Freund/Feind-Formel als bellezistisch und kriegslüstern verurteilt worden. Schmitt selbst schrieb, daß seine Bestimmung des Politischen "weder bellezistisch oder militaristisch noch imperialistisch noch pazifistisch ist". Sobald politisches Denken und Handeln einsetzt, gruppieren sich die Handlungsentwürfe um die basale Grunddifferenz Freund/Feind, Krieg ist da höchstens das letzte Mittel aller Möglichkeiten. Systemtheoretisch betrachtet haben die Kritiker Schmitts die Codierung mit der inhaltlichen Programmierung von Politik verwechselt. Freund/Feind als grundlegende Codierung des Politischen besagt nicht, daß inhaltlich eine "kriegerische" Politik verfolgt wird, Freund/Feind besagt nur, daß alle Operationen des politischen Systems vor dem Hintergrund eines potentiellen Feindes strukturiert und geprägt sind.

Es ist nachgerade logisch, daß im Nachkriegsdeutschland diese Semantik des Politischen auf Widerstand stoßen mußte, obwohl gerade diese Zeit die Freund/Feind-Antithetik im Ost-West-Konflikt pflegte. Zumindest die alte Bundesrepublik hat sich in den Windschatten der Supermacht USA und der Nato begeben und hat sich auf innere Probleme des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates konzentriert. Man glaubte, durch das "Gleichgewicht des Schreckens" sei der äußere Feind paralysiert und ein Krieg undenkbar. Eine Zeitlang hat dieses Gleichgewicht des Schreckens auch funktioniert und die Parteien von kriegerischen Handlungen abgehalten, aber eben doch nur, weil sich sowohl der Westen als auch der Osten nach Maßgabe der Freund/Feind-Formel verhalten hat: Tue alles, um die eigene Position zu stärken und um die Position des Feindes/Gegners zu schwächen. Ja, selbst der Ausbau des Wohlfahrtsstaates läßt sich mit der Freund/Feind-Formel in Verbindung bringen: Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist im Westen nicht aus Gefühlsduselei entwickelt worden, sondern als Antwort auf den Sozialismus und seinem Anspruch auf "soziale Gerechtigkeit". So kommt es auch nicht von ungefähr, daß nach dem Zusammenbruch des östlichen Bündnisses die hohe Zeit des Sozialabbaus im "alten Westen" einsetzte.

Daß die Freund/Feind-Formel die Grundunterscheidung des Politischen ist, zeigt sich auch daran, daß sich diese Formel im politischen Leben immer wieder restrukturiert, selbst wenn die "alten" Feinde absterben. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes glaubten viele "one world"-Optimisten (Fukuyama ), daß nun die Zeit gekommen sei, um mit friedlichen Mitteln diese eine uns gegebene Welt politisch zu gestalten. Doch kaum haben wir uns vom Ost-West-Konflikt erholt, stehen ganz plötzlich neue Feindbilder ins Haus: der internationale Terrorismus, Schurkenstaaten, Teile der arabischen Liga, und dem Kampf der Ideologien folgt der "Kampf der Kulturen" (Huntington). So erweist sich die Vorstellung als Chimäre, Politik habe nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes den "latenten Bellezismus" der Schmittschen Freund/Feind-Antithetik überwunden und erschöpfe sich in "Weltinnenpolitik", als durch kollektiv bindende Entscheidungen die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt letztes und einziges Ziel politischen Handelns sei. Die neuen äußeren Bedrohungen machen es erforderlich, in der Politik wieder verstärkt nach dem Muster Freund/Feind zu denken und die bislang im Vordergrund stehende "Milchkuh"- Funktion für gesellschaftliche Probleme von Staat und Politik zu relativieren.

So gesehen muß sich Staat und Politik "repolitisieren", weil Staat und Politik sich wieder mit politischen und nicht gesellschaftlichen Problemen primär befassen muß. Diese Wende in der Politik kommt vielen Politikern recht. Denn die "alte" Politik der Daseinssteigerung durch den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme ist am Ende, der Sozialstaat ist erschöpft. Doch was kommt danach, wo doch der Staat allein aus seiner Sozialstaatsfunktion seine Daseinsberechtigung schöpfte? Meinhard Miegel kommt in seiner exzellenten Analyse "Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen" zu dem zustimmungsfähigen Schluß: "Hinter vorgehaltener Hand diskutieren deshalb nicht nur die Politiker - die aber besonders - , was künftig die tragende Säule staatlichen Handelns sein soll. In einer Bevölkerung, die an Zahl ab- und an Alter zunimmt, liegt die Antwort nahe: Sicherheit nach innen und außen in jedweder Form und Gestalt. Die Sicherheitskarte dürfte zur neuen Trumpfkarte der Politik werden. Die Parteien werden sich in Sachen Sicherheit ebenso zu überbieten versuchen, wie sie sich bislang mit Sozialleistungen überboten haben. Dabei ist absehbar, daß nicht alles, was der Bevölkerung angedient wird, wirklich vonnöten ist. Aber es rechtfertigt staatliche Interventionen. Was der Sozialstaat nicht mehr vermag, übernimmt künftig - so gut es geht - der Sicherheitsstaat."

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Zuletzt erschien von ihm "Krankheit und Gesundheit als gesellschaftliche Konstruktion. Gesundheits- und medizinsoziologische Schriften 1979-2003".

Bild: Der Untergang des Leviathan (Holzstich nach einer Zeichnung von Gustave Dore, 1864):

Nach der Weissagung (Altes Testament, Jesaias 21,1) besiegt Jawe den teuflischen Meeresdrachen. In der Bibel ist dieses Ungeheur Symbol für die Macht der ägyptischen Pharaonen. Der englische Philosoph Thomas Hobbes vergleicht den Staat insgesamt mit diesem furchtbaren Moloch, dessen Eingeweide den Massen als Speise dienen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen