© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/04 10. September 2004

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Verzweiflung
Karl Heinzen

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, hat sich dagegen ausgesprochen, die direkte Mitwirkung der Bürger an Entscheidungen des Bundes bloß auf eine einzige Abstimmung über die Verfassung der Europäischen Union zu beschränken. Nach seiner Auffassung sollte das, was derzeit als die Ausnahme angedacht ist, in Zukunft vielmehr die Regel sein. Das Instrument des Referendums dürfte "inhaltlich nicht eingeschränkt" werden. Der Deutsche Bundestag müsse statt dessen die Befugnis erhalten, politische Fragen aus einem sehr breiten Themenspektrum den Wählern zur Entscheidung vorzulegen.

Die Reaktionen auf diesen Vorstoß sind bislang parteiübergreifend kritisch. Die CDU etwa unterstellt Wiefelspütz empört, er wolle nach dem Vorbild der autoritären Regime Frankreichs und Großbritanniens den Mehrheitsparteien im Parlament ein Mittel an die Hand geben, auch noch die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Die Grünen wiederum monieren, daß Plebiszite von unten initiiert und nicht von oben oktroyiert werden sollten. Aus den fernen Tagen ihrer basisdemokratischen Ursprünge haben sie sich offenbar die Weisheit bewahrt, daß Anliegen von organisierten Minderheiten einfacher auf die Agenda der Politik gesetzt werden können, wenn außerparlamentarischer Druck erzeugt und nicht alles den nach dem gesunden Volksempfinden schielenden Abgeordneten überlassen wird.

Einwendungen dieser Art verkennen jedoch die Motive von Wiefelspütz, die respektabel sind und zugleich eine gewisse Verzweiflung zum Ausdruck bringen. Als Parlamentarier ist er nämlich sensibel genug, um feststellen zu können, daß die überwiegende Mehrheit der Wähler jenen Honoratioren, die zu ihren Vertretern gekürt werden, nicht mehr zutraut, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes zu treffen. Da diese zwischen bloßem Mitleid und blanker Verachtung schwankende Stimmung bis auf weiteres wohl nicht zu beeinflussen ist, spielt er den Ball zurück. Wenn jede Weichenstellung, die die Politiker in Angriff nehmen, sowieso nur Nahrung für weiteren Mißmut der Bürger ist, dann sollten diese doch gefälligst selber ihre Reformen auf den Weg bringen! Vielleicht merken sie auf diese Weise endlich, wie kompliziert das politische Geschäft ist.

Genau dies will das parlamentarische System im Sinne einer Entlastung der Menschen aber eigentlich vermeiden. Die Bürger haben ein Recht darauf, nicht mit Verantwortung behelligt zu werden. Sie wollen in der knappen Zeit, die sie im Alltag der Politik einzuräumen vermögen, zu einer überschaubaren Zahl von drängenden Problemen plakative, möglichst sogar in Personen verkörperte Antworten, zwischen denen sie sich einfach und schnell entscheiden dürfen. Wer ihnen mehr aufbürdet, macht sie unglücklicher, als sie je durch gescheiterte Reformen werden könnten: Sie drohen dann nicht mehr nur an der Politik, sondern an sich selbst zu verzweifeln.


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