© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/04 10. September 2004

Alle Schranken fallen
Ein kalkulierter Tabubruch: Das Blutbad von Beslan und die Folgen
Alexander Griesbach

Warum ging es gegen die Kinder?" lautete die fassungslose Frage einer Mutter angesichts der blutigen Geiselnahme im südrussischen Nordossetien. Es ist die Schlüsselfrage zum Verstehen eines Terroraktes, der von einer angeblich multinationalen Terroristengruppe mit größtmöglicher Grausamkeit verübt wurde. Dessen Bilanz ist erschütternd: Zu Beginn der Woche war offiziell von 335 Toten, zu einem Großteil Kinder, und um die 190 Vermißten die Rede. 440 Verwundete, zum Teil schwer verletzt, sind noch in stationärer Behandlung. Russische Geheimdienstkreise vermuten den berüchtigten Feldkommandanten Shamil Bassajew als Drahtzieher hinter dem Geiseldrama. In der Tat deuten Art und Ausführung des Vorgehens in Beslan auf Bassajew. Beweise hierfür gibt es aber noch nicht.

Das Ausmaß des menschlichen Leides, das hinter den nackten Opferzahlen steckt, kann nur erahnt werden. Daß die Terroristen, die in Beslan ein Massaker anrichteten, etwas derartiges von vornherein in ihr Kalkül gezogen haben, zeigt ihr zielgerichtetes Vorgehen. Lange vor dem Überfall sollen sie Sprengstoff und Waffen in die Schule geschmuggelt haben. Bei Umbaumaßnahmen in der Schule traten sie offensichtlich als Handwerker auf. Insgesamt zeigten sie ein Maß an Kaltblütigkeit und Menschenverachtung, für das nur schwer Worte gefunden werden können. Eine 24jährige Mutter, die das Blutbad mit ihrem Sohn überlebt hat, meinte: "Das sind keine Menschen. Ich kann nicht verstehen, was sie uns angetan haben."

Bei aller Fassungslosigkeit, die sich angesichts der Vorgänge in Beslan ausgebreitet hat, ist es von großer Bedeutung, das als "unbegreiflich" Apostrophierte verstehen zu wollen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund der Beobachtung, daß diese Art von Terrorismus Schule zu machen droht. Für ihn scheint die Regel zu gelten: Je spektakulärer der Tabubruch, je höher die Zahl der Toten, und je größer das weltweite Aufsehen, desto besser. Ins Auge fällt aktuell vor allem der Tabubruch: Bisher jedenfalls war die gezielte Ermordung von Kindern selbst unter Terroristen weitgehend geächtet.

Deshalb drängt sich die Vermutung auf, daß die Täter mit der Ermordung von Kindern vor allem ein "kommunikatives Zeichen" setzen wollten. Wer Kinder ermordet, gibt zu erkennen, daß er sich an keinerlei Regeln und Menschlichkeit mehr gebunden fühlt. Sein Ziel lautet, den Feind psychologisch so unter Schockwirkung zu setzen, daß dessen Widerstandswille schwindet. Man denke nur an die Massaker der Roten Armee in Ostpreußen, bei denen unterschiedslos alte Menschen und Kinder auf zum Teil unvorstellbar grausame Art und Weise ermordet wurden.

Im Hinblick auf den Massenmord von Beslan erschöpften sich die bisherigen Wortmeldungen in den üblich gewordenen Betroffenheitsbekundungen oder in Solidaritätsadressen für Rußlands Präsident Putin. Alle diese Äußerungen dokumentieren bei Lichte betrachtet nichts anderes, als daß die "zivilisierte" Welt gegenüber dieser Form von "asymmetrischer Kriegführung", die sich jenseits von Gut und Böse bewegt, trotz aller medial transportierten, wortreichen Bekundungen im Kern sprachlos ist.

Wie erklärt sich diese Sprachlosigkeit? Dadurch, daß die Terrorakte islamistischer Fanatiker direkt das Zentrum zivilisatorischer Wertvorstellungen treffen. Man kann mit einem gewissen Recht von "psychologischer Kriegführung" sprechen. Diese bekommt durch einen Umstand, von dem frühere Terroristengenerationen nur träumen konnten, verstärkte Bedeutung: durch die direkte mediale, weltweite Verbreitung ihrer Aktionen. Terrorismus ist heute auch und vor allem, wie Stephen Sloan, Politikwissenschaftler an der Universität von Oklahoma, es genannt hat, "eine effektive Art und Weise der Kommunikation". Doch was genau sollte in Beslan "kommuniziert" werden?

Auch wenn es aufgrund des großen Leides inopportun erscheinen mag, muß die Frage gestellt werden, ob es für diesen Gewaltakt überhaupt ein rational nachvollziehbares Argument geben kann. Der kanadische Philosoph Ted Honderich hat in seinem umstrittenen Traktat "Nach dem Terror" mit Blick auf den Terrorismus der Palästinenser eine Erklärung versucht. Opportun erscheine dieser Terrorismus dann, wenn jegliche strategische Alternative fehle. "Der Terrorismus ist der Palästinenser einziges effektives und ökonomisches Mittel der Selbstverteidigung, der Befreiung, des Widerstands gegen Erniedrigung", schreibt Honderich. Er will damit nicht sagen, daß diese Form von Terrorismus auch "richtig" sei; sie könne aber "möglicherweise" gerechtfertigt werden.

Einige Kriterien, die Honderich nennt, könnten durchaus auf die Motive der tschetschenischen Terroristen übertragen werden. Das Besatzungsregime, das Moskau mit allen Begleiterscheinungen wie Rechtsunsicherheit, Willkür, Mord und Verschleppung installiert hat, spricht westlichen Menschenrechtsvorstellungen Hohn. Diese Situation wurde durch die kürzliche Inthronisierung des moskauhörigen Präsidenten Alu Alchanow nochmals unterstrichen. Die Umstände seiner "Wahl" müssen für jeden freiheitsliebenden Tschetschenen eine Provokation darstellen. Alle diese Motive können aber den systematischen Mord an Kindern in keiner Weise legitimieren.

Moskau glaubt, aus geostrategischen Gründen die Unterdrückung Tschetscheniens nicht mildern zu können. Der Kaukasus ist seit Jahrhunderten russische Einflußzone. Seit geraumer Zeit wird diese Hegemonie durch die USA in Frage gestellt. Sowohl die Russen als auch die Amerikaner konkurrieren um den Zugriff auf die Erdöl- und Erdgasvorkommen, die in dieser Region vermutet werden. Ein Rückzug aus Tschetschenien hieße aus russischer Sicht, sich von seinen machtpolitischen Ambitionen in dieser Region endgültig verabschieden zu müssen. Da die einzige Antwort, die Moskau auf die Autonomiebestrebungen der Tschetschenen hat, Gewalt und Unterdrückung heißt, steht zu befürchten, daß sich die Schraube der Eskalation weiterdrehen wird. Es gehört keine große Weitsicht dazu, um zu erkennen, daß blutige Gewalttaten in Tschetschenien auch weiterhin eingesetzt werden, um diese tragische Konstellation zur Krise, sprich: Entscheidung zu führen.

In dieser Auseinandersetzung dürfte Moskau aller Voraussicht nach nicht die Oberhand behalten. Denn die bisherigen Erfahrungen sprechen eine eindeutige Sprache: Auf Dauer können Völker, die auf Selbständigkeit drängen, nicht mit brutaler Gewalt unterdrückt werden. Eine ähnliche Lehre dürfte im übrigen auch den US-Besatzern im Irak beschieden sein.


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