© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/04 03. September 2004

Frisch gepresst

Riga. Die Neuzeit begann 1857 in Riga am augenscheinlichsten - wie in vielen anderen Städten Europas - mit der Beseitigung der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Mauern und Festungswerke. Bereits ein Jahr später wurde mit der Eisenbahnerschließung gleichzeitig der Weg für die Industrialisierung gelegt. Der alten Hansestadt mit ihren vorwiegend deutschen Bürgern und Handwerkern (um 1860 knapp fünfzig Prozent) erwuchs dadurch nicht nur in der größeren Mobilität der Güter eine entscheidende Veränderung. Die baltische Metropole wandelte in den nächsten knapp fünfzig Jahren ihr komplettes Gesicht. 1914 lebten mehr als 500.000 Menschen in Riga, die meisten Letten. Die Deutschen - immer noch sozial an der Spitze stehend - wurden zur Minderheit noch nach den Russen. Ganze Stadtlandschaften waren neu erstanden, prächtig die Jugendstilquartiere in der Petersburger Vorstadt, proletarisch in der östlichen Moskauer Vorstadt. Eine Gruppe von lettischen und deutschen Historikern - unter ihnen "Altmeister" Erwin Oberländer aus Mainz - porträtieren diese entscheidende Phase der Dünastadt aus der Sicht der jeweiligen Volksgruppen. Der derzeit verstärkt zu beobachtenden Tendenz geschuldet, überall multikulturelle Wurzeln freizulegen, wird die von Deutschen, Letten und Russen geprägte Stadt zusätzlich durch die Perspektive der im unteren Prozentbereich liegenden estnischen, polnischen und jüdischen Minderheiten wiedergegeben (Riga. Portrait einer Vielvölkerstadt am Rande des Zarenreiches 1857-1914. Schöningh Verlag, Paderborn 2004, gebunden, 288 Seiten, 24,90 Euro).

Fundamentalkritik. Den US-Schriftsteller Gore Vidal - der wegen seiner frühen Kritik an Bushs Außenpolitik ehedem als "böser Onkel" galt - gelüstet es in seiner aktuellen Tour d'horizon durch die Eigenheiten der US-Innenpolitik nach einer fundamentalen Veränderung. An die Präsidentschaftswahl knüpft er allerdings nur geringe Hoffnung, da er Kerry kaum eine bessere Politik als Bush zutraut. In einem System ohne nennenswerte politische Richtungen sehnt sich der Linke mit teilweise schwer zu durchschauenden gedanklichen Bocksprüngen nach einem Aufbruch in den Ausbruch - womit er sogar den verfassungsmäßigen Status quo in Frage stellt (Die vergeßliche Nation. Wie die Amerikaner ihr politisches Gedächtnis verkaufen. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004, 114 Seiten, broschiert, 12,90 Euro).


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