© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/04 03. September 2004

Beargwöhnte Fremdlinge
Viktor Bruhl hat mit der Geschichte der Deutschen in Sibirien ein fulminantes Werk vorgelegt / Der erste Band reicht bis 1941
Josef Schleicher

Nach langjährigen Forschungen des Göttingers Viktor Bruhl zur Geschichte der Rußlanddeutschen ist nun sein zweibändiges Buch "Die Deutschen in Sibirien" auch auf deutsch erschienen. Im Mittelpunkt des Werkes stehen die dramatischen Veränderungen in den kulturellen und wirtschaftlichen Lebensbereichen in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, die Deportation und Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges sowie das vielfältige Alltagsleben in den Verbannungsgebieten.

Bruhl ist selbst ein Vertreter der Nachkriegsgeneration der Rußlanddeutschen von der Wolga (Mariental), die in den Verbannungsorten ihrer Eltern geboren wurde. Er kam in der Altairegion (Westsibirien) zur Welt, erwarb hier die Ausbildung als Historiker und widmete sich der Erforschung des Schicksals seines Volkes. Sorgfältig ging er die Archive durch, die erst Ende der 1980er Jahre geöffnet wurden, sammelte und analysierte eine Menge von Archivmaterialien und verfaßte Mitte der neunziger Jahre seine zweibändige Arbeit zur Geschichte der Deutschen in Sibirien in russischer Sprache. Das Buch fand einen schnellen Absatz in den GUS-Staaten und war nicht nur für Historiker, sondern auch für Laien von großem Interesse. Die wissenschaftliche und dokumentarische Darlegung der Geschichte aller Deutschen im Russischen Imperium und in der UdSSR, insbesondere aber in der sibirischen Region, vereint der Autor mit interessantem faktischem Material, das er in persönlichen Interviews mit den unmittelbaren Teilnehmern und Zeugen der tragischen Ereignisse im Leben der deutschen Bevölkerung sammelte.

Um mehr deutschsprachige Leser über die Tragödie der Rußlanddeutschen aufzuklären, setzte Bruhl auch in Deutschland die Arbeit an seinem fundamentalen Werk fort. Während Autoren, die durch ihren großen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Deutschen in Rußland bekannt sind, wie etwa Arkadij Herman aus Saratow oder Meir Buchsweiler aus Israel die Tragödie der Deutschen im Rahmen des Klassenkampfes widerspiegeln, geht Bruhl vor allem vom nationalen Faktor aus.

Bisher deuteten einige Autoren nur intuitiv die Rolle des nationalen Faktors in der Politik der Sowjetmacht und der Kommunistischen Partei gegenüber den Deutschen in der UdSSR an, aber keiner konnte sie dokumentarisch belegen. Bruhl gelang es, ein einzigartiges Dokument zu entdecken und zu veröffentlichen, nämlich den Geheimbeschluß des ZK der RKP(b) vom 5. November 1934, der die Deutschen der Illoyalität gegenüber der Sowjetmacht beschuldigte und einen Kampf mittels Repressalien in Form von Festnahme, Verbannung und Erschießung der "boshaften Elemente" forderte. Bruhl macht auch auf ein anderes Geheimdokument aufmerksam, laut dem in der UdSSR alle repatriierten Deutschen (Menschen, die während des Krieges von der Wehrmacht nach Westen mitgeschleppt und 1945 in die Heimat zurückgeschickt wurden) bis 1991 unter ständiger Aufsicht der KGB standen. Eben weil in Bruhls Artikeln, die er für die Enzyklopädie "Die Deutschen in Rußland" schrieb, der nationale Faktor überwog, wurden einige davon von der deutschen Seite geschätzt, von der russischen Seite jedoch ganz bewußt abgelehnt.

Bis heute herrscht in der Öffentlichkeit und unter den meisten Historikern, die sich mit der Geschichte der Rußlanddeutschen befassen, die Meinung vor, daß der Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR im Jahre 1941 der Ausgangspunkt für die Verschlechterung der Lage der Rußlanddeutschen sei. Dabei wird die Lage der Deutschen im zaristischen Rußland sowie in der UdSSR im letzten Jahrzehnt vor dem Krieg ein wenig idealisiert. Eine von Bruhl unternommene eingehende Analyse der Geschichte der Deutschen in Rußland und in Sibirien stellt diese herkömmliche Auffassung wesentlich in Frage und berichtigt sie.

Bei der Schilderung der Geschichte der Rußlanddeutschen beurteilt Bruhl ihre Lage aus der Sicht der "Fremdlinge" (die eingesiedelten Deutschen) und der "Unseren" (die Einheimischen in Rußland). Andererseits berücksichtigt er aber auch den Einfluß der zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Rußland (UdSSR) und Deutschland auf die Lage der Rußlanddeutschen. Die deutschen Übersiedler hatten die europäische Zivilisation verlassen. Sie kamen nach Rußland, wo es nach Meinung des Forschers weder eine europäische noch eine asiatische Zivilisation gab. In den unermeßlichen Weiten des Russischen Imperiums hatten sich die verschiedensten Nationalitäten, Religionen, Konfessionen und Zivilisationen auf verwunderliche Weise verflochten. Rußland lud die Deutschen nicht nur zur Urbarmachung der öden Ländereien ein. Die Machtorgane sahen sie auch als Träger der westlichen Kultur, die den russischen und ukrainischen Bauern Elemente ihres fortschrittlichen Landwirts- und Lebenskultur vermitteln sollten.

Doch die Deutschen siedelten sich in Rußland in abgesonderten Kolonien an und waren dadurch von der russischen und ukrainischen Bevölkerung isoliert. Somit konnte kein richtiger Erfahrungsaustausch zustande kommen. Daneben gab es eine andere Ursache, die viel tiefere Wurzeln hatte. Unter allen nationalen Gruppen, die nach Rußland kamen, waren die Deutschen wirtschaftlich und kulturell am erfolgreichsten. Weil sie effektiver wirtschafteten, lebten sie auch wohlhabender. Die deutschen Kolonisten standen auf einem weit höheren Entwicklungsniveau, und die Übernahme der russischen Wirtschafts- und Lebensweise hätte sie zurückgeworfen.

Für die russischen wie ukrainischen Bauern waren die Deutschen aber Fremdlinge, deren Lebensweise sie nicht übernehmen wollten. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 und der beschleunigten Entwicklung der Marktverhältnisse vergrößerten die deutschen Kolonisten ihre Grundstücke, was zur Steigerung ihrer Wirtschaftseinflüsse auf die landwirtschaftliche Produktion beitrug. Dabei aber hielten sie weiter an ihrer Lebensweise fest, sprachen kein Russisch und brannten auch nicht darauf, es zu lernen. All das merkten sich die russischen, radikal gestimmten Patrioten und schlugen Alarm. Bei jeder Gelegenheit sprachen sie davon, daß die Deutschen "anders", daß sie "Fremdlinge" und allem Russischen "fremd" seien und sich auch das Russische nicht aneignen wollen.

Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und der Kampf zwischen Deutschland und Rußland um den Einfluß in der Welt verschlechterten die Lage der Rußlanddeutschen immer mehr. Die Russifizierungspolitik des Zaren Alexander III. schuf eine gesetzliche Grundlage für die Integration der Deutschen in die russische Gesellschaft und ihre Assimilierung. Aus Protest emigrierten viele Deutsche ins Ausland, während ein kleinerer Teil nach Sibirien und Mittelasien umsiedelte, wo der Einfluß der Zentralmächte nicht so stark zu spüren war.

In den Jahren des Ersten Weltkrieges unternahm man gesetzliche Regierungsaktionen, die auf die Russifizierung der deutschen Bevölkerung gerichtet waren. Die deutschen Dörfer bekamen russische Namen, und der Deutschunterricht wurde eingeschränkt. Die sich immer wiederholenden Umregistrierungen der deutschen Bevölkerung sollten sie psychologisch beeinflussen. Es wurden auch Maßnahmen vorbereitet, um den Deutschen das Land wegzunehmen, aber diese wurden durch die Februarrevolution im Jahre 1917 verhindert. An der Revolution und am Bürgerkrieg hatten die Deutschen Sibiriens keinen aktiven Anteil. Sie leisteten nur Zwangspflichten. Nach Bruhls Meinung waren gerade die Deutschen die verbissensten und beharrlichsten Gegner der Sowjetmacht.

Die gesamte Lebensweise der Deutschen, die auf Privateigentum und auf eigenen jahrhundertealten Wirtschafts-, Religions- und Kulturtraditionen basierte, war mit der Ideologie und den Praktiken des Sozialismus unvereinbar. Besonders unbeugsam verhielten sich die Mennoniten gegenüber der neuen Macht. Daß es unter den Deutschen praktisch keine Kommunisten gab, erschwerte die Arbeit der Sowjetbehörden unter der deutschen Bevölkerung noch mehr. Die aus dem Zentrum geschickten Bolschewiki, meistenteils ehemalige Kriegsgefangene - Deutsche und Österreicher - hatten weder Autorität noch Einfluß auf die deutschen Bauern. Der Leser erfährt von den Taten einiger dieser Bolschewiki, die in die Emigrantenliteratur als Opfer des Stalinismus eingegangen sind, in Wirklichkeit aber, wie Bruhl dokumentarisch beweist, um der Ideen der Weltrevolution willen Verbrechen gegen die deutsche Bevölkerung Sibiriens begingen. Später wurden diese überzogenen Verfechter des Kommunismus selbst Opfer des Regimes, dem sie treu dienten.

In seiner Arbeit zeigt Bruhl anschaulich, daß sowohl im zaristischen Rußland als auch unter den Sowjets den Deutschen gegenüber eine besondere Politik betrieben wurde. Nachdem jedoch 1933 in Deutschland Hitler an die Macht kam, trat der nationale Faktor von seiten der Sowjetmacht hinsichtlich der Deutschen stärker in den Vordergrund. Der Beschluß des ZK der RKP(B) vom 5. November 1934 bestimmte die Hauptrichtungen der Parteipolitik, wodurch die Verfolgung der Rußlanddeutschen einen ausgeprägten nationalen Charakter annahm. Die Deutschen waren die erste Volksgruppe, die zielgerichtet verfolgt wurde. Von 1933 bis 1935 wurde die gesamte deutsche Bevölkerung komplett überprüft. Verschiedenartige Säuberungs- und Repressalienaktionen sollten die Deutschen einschüchtern und zur Loyalität gegenüber der Sowjetmacht zwingen. In den Jahren des großen Terrors (1937-1938) wurde eine ganze Reihe von Volksgruppen zielgerichteten Repressalien nach ihrer Nationalität unterzogen, auch die Deutschen gehörten wieder dazu.

Im großen und ganzen war die Zahl der Deutschen unter den Erschossenen sowohl im gesamten Land als auch in Sibirien prozentual die höchste im Vergleich zu den anderen Völkern. Fast alle erwachsenen deutschen Männer waren Repressalien ausgesetzt, und nur einige davon kehrten später aus den Gefängnissen zurück. In denselben Jahren waren unter den ersten aufgelösten nationalen Rayons (Landkreise) auch der Deutsche Rayon und die deutschen Dorfsowjets in der Altairegion. Die Redaktion der deutschen Zeitung wurde geschlossen, der Deutschunterricht in den deutschen Dörfern eingestellt und Russisch eingeführt. In den leitenden Ämtern ersetzte man die Deutschen durch Russen. Somit war auch die Basis für die Bewahrung der deutschen Sprache und Kultur vernichtet.

Doch die weiteren Ereignisse zeigten, daß den Deutschen das Schwerste und das Schrecklichste noch bevorstand.

Foto: Mennonitische Siedler im sibirischen Tschukrejewska (um 1900): Erfolgreicher und wohlhabender

Viktor Bruhl: Die Deutschen in Sibirien. Eine hundertjährige Geschichte von der Ansiedelung bis zur Auswanderung, Band 1. Herausgegeben vom Historischen Forschungsverein der Deutschen aus Rußland e.V.. Nürnberg 2003, gebunden, 553 Seiten, 20 Euro (zu beziehen über Dr. Viktor Bruhl, Weserstraße 4, 37081 Göttingen)

Die Rezension des zweiten Bandes folgt in der nächsten Ausgabe.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen