© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/04 03. September 2004

Hartz-IV-Proteste
Der neue Kampf um die Straße
Dieter Stein

Die Proteste gegen die "Hartz-Reformen" der Bundesregierung überraschen selbst hartgesottene rot-grüne Regierungsmitglieder. Einige haben ja solide Straßenkampferfahrung wie der Außenminister, der mit seiner Frankfurter "Putztruppe" Polizisten krankenhausreif geprügelt hat. Kanzler Schröder selbst hat ebenfalls Demo-Erfahrung aus Juso-Tagen. Bei den Aufmärschen gegen Kernkraftwerke und Nato-Nachrüstung Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wurde nicht lange gefackelt. Es flogen nicht nur Pflastersteine, es spielten sich bürgerkriegsähnliche Szenen an der Startbahn West, in Brokdorf, Wackersdorf und anderswo ab. Gerne sonnen sich die grau gewordenen Revoluzzer in ihren Heldentaten von einst und kokettieren mit dem verblichenen Anarchismus.

Man wußte, die Straße gehörte im Zweifel der Linken. Daß nun eine von ehemaligen Straßenkämpfern und 68er Jusos gestellte Bundesregierung selbst unangenehme Bekanntschaft mit dem Protest der Straße macht, ist neu. Sicher, gegen die Regierung Helmut Schmidt hatte die radikale Linke mobil gemacht. Aber war Schmidt nicht als ehemaliger Wehrmachts-Oberleutnant der knorrige Inbegriff des autoritären Staates gewesen, den man von links mit Wonne angreifen durfte?

Nun müssen sich Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Gerhard Schröder von Sonnenbrillen tragenden Sicherheitsleuten einkeilen lassen, wenn sie sich unter das Volk wagen. Als Bundeskanzler Schröder in Wittenberge den neuen ICE-Bahnhof mit einer schäumenden Schampus-Pulle einweihte, wurde nicht nur lauthals "Lügner" gebrüllt, es segelte auch ein Ei in seine Richtung.

Dreizehn Jahre zuvor hatten sich diejenigen, die sich nun - zu Recht - über Tätlichkeiten auf Demonstrationen beklagen, noch öffentlich diebisch gefreut, als der damalige Bundeskanzler auf dem Marktplatz in Halle gleich mit einem Trommelfeuer von Eiern bedacht wurde. Nur: Dieser Kanzler hieß Kohl und hatte das CDU-Parteibuch. Derselbe Franz Müntefering, der sich heute als SPD-Chef betroffen über die Wut der Demonstranten äußert, konnte seine "klammheimliche Freude" (Der Spiegel) über die Eier gegen Kohl 1991 kaum verbergen. Das "wirklich dicke Ei", so der damalige Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, seien die Wortbrüche Kohls gewesen.

Eierwürfe auf den Kanzler sind natürlich ungebührlich, die hysterische Empörung von Rot-Grün ist aber verlogen. Seit Jahren sehen besonders Innenminister von Rot-Grün zu, wie Linksextremisten mit Gewalt gegen Versammlungen Andersdenkender vorgehen. Mittels nackter Gewalt wurden Wahlkampagnen oder Demonstrationen kleinerer konservativer oder rechter Parteien systematisch sabotiert, ohne daß dies einen ähnlichen Aufschrei der Empörung ausgelöst hätte. Im Gegenteil: Es herrschte und herrscht ein Klima stillschweigender Duldung der politischen Gewalt auf der Straße - sofern sie von links kommt. Kommt nun Gewalt aus der "Mitte der Gesellschaft" wie bei den jüngsten Eierwürfen auf Schröder und auf Oskar Lafontaine, ist plötzlich das Wehklagen groß.


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