© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/04 27. August 2004

Apologet oder doch nur ein Kind seiner Zeit
Zwei aktuelle Werke interpretieren die Tirpitzsche Flottenpolitik des Kaiserreiches und deren Anteil am wilhelminischen "Weltmachtstreben"
Matthias Bäkermann

Großadmiral Alfred von Tirpitz hat keine gute Presse. Über siebzig Jahre nach seinem Tod gilt er als einer der Hauptverantwortlichen jener wilhelminischen Außenpolitik, die 1914 in den Ersten Weltkrieg keinesfalls nur "hineingeschliddert" sei, sondern die nach einer heute "herrschenden Meinung" unter bundesdeutschen Zeithistorikern zielstrebig auf den gewaltsamen "Griff nach der Weltmacht" hingearbeitet habe.

Tatsächlich eignet sich außer Erich Ludendorff kaum ein deutscher Militär besser für die Rolle des Hunnen, der zum Frühstück schon belgische Kinder verspeist. Dabei war Ludendorff nur ein unbekannter Generalstäbler, der nach seinem Lütticher Gesellenstück erst in Tannenberg wie ein deus ex machina die weltpolitische Bühne betrat. Tirpitz hingegen, seit 1897 Staatssekretär im Reichsmarineamt und damit faktisch deutscher Marineminister, personifizierte als Finsterling mit Neptunsbart für eine Generation in- und ausländischer Karikaturisten den wilhelminischen Imperialismus sans phrase. Heute noch ist zum gesunkenen zeithistorischen Kulturgut zu rechnen, daß Tirpitz' "Risikoflotte" den deutsch-englischen Gegensatz überhaupt auslöste. Mit seinem forcierten Schlachtschiffbau habe der Großadmiral das Empire geradezu in eine antideutsche Koalition hineingetrieben. Soweit wie man von einer "Einkreisung" des Kaiserreichs sprechen dürfe, sei sie zweifellos von Tirpitz' Dickschiffwahn provoziert worden.

Die beiden neuesten Studien über Tirpitz als Seekriegsstrategen widersprechen solcher communis opinio nicht. Sie steht aber auch nicht im Zentrum des Interesses von Christian Rödel und Rolf Hobson. Rödel, der eine Bamberger Magisterarbeit zum Thema vorlegt, die das Niveau einer guten Dissertation aufweist, und der norwegische Militärhistoriker Hobson, dessen Arbeit 2002 bereits in einer englischen Ausgabe erschienen ist, blenden den oft traktierten und zwischen Apologeten und Anklägern des Großadmirals heftig umstrittenen Zusammenhang von Außen- und Flottenpolitik weitgehend aus, und damit auch Tirpitz' Anteil an der Eskalation der deutsch-englischen Rivalität im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Wichtiger ist beiden Autoren vielmehr, welchen Stellenwert das seestrategische Denken des deutschen Kriegsdenkers im internationalen Vergleich einnimmt. Der Norweger führt den Leser zu diesem Zweck tief ins 19. Jahrhundert zurück und rekonstruiert die Hauptlinien des britisch-französisch dominierten "Diskurses" über "Seemacht" im Kontext von Industrialisierung, marinetechnischer Innovation und kolonialem Imperialismus. Gründlicher als Rödel stellt Hobson dann die nach 1871 nur sehr zögerlich beginnende deutsche Diskussion dar, die sich erst nach Bismarcks Entlassung, unter dem Einfluß Alfred Thayer Mahans, aus kontinentalen Befangenheiten löst. Mahan, der US-amerikanische Seemacht-Prediger, der häufig als maritimer Clausewitz überschätzt wird, hat jedoch, darin sind sich Hobson und Rödel einig, die Tirpitzsche Strategie weniger präformiert als sie nachträglich legitimiert. Daß das Deutsche Reich während der ersten Regierungsjahre Wilhelms II. sich an einem neuen politischer Imperativ ausrichtete, war sicher nicht das Resultat eifriger Lektüre von Mahans "The Influence of Seapower upon History" (1890). Vielmehr schuf der weltpolitisch orientierte wilhelmische Drang nach einem "Platz an der Sonne" nur den idealen Resonanzraum für Mahans simple These, daß ohne Seemacht der Kampf um Weltgeltung von vornherein verloren ist. Von der Notwendigkeit, an diesem Kampf teilnehmen zu müssen, war Tirpitz auch ohne Mahan-Kenntnis überzeugt.

Hier liegt der neuralgische Punkt beider Analysen. Hobson spricht von einem "Glaubensartikel", Rödel von einem um 1890 nicht hinterfragten "zentralen Element des politischen Diskurses", wenn sie Tirpitz' Axiom untersuchen, daß Seemacht eine wesentliche weltpolitische Kraft sei, ohne die das Reich in der Konkurrenz der Mächte "über kurz oder lang verkümmern" werde: "Ohne auf den Stand eines armen Ackerbaulandes zurückzusinken, konnten wir England nicht zum Freund und Gönner gewinnen" (Tirpitz). Rödel vermag offensichtlich schon die Plausibilität dieses "Glaubensartikels" nicht einzusehen, geschweige denn die von Tirpitz daraus gezogenen seestrategischen und flottenpolitischen Konsequenzen. Zumindest deutet er an, daß Deutschlands Handel bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unter den Fittichen der unumschränkten englischen Seeherrschaft ungehindert expandierte. Diese britische Toleranz mußte jedoch dann enden, wenn der deutsche "Juniorpartner" in die überseeischen Hauptgeschäfte des Empire drängte. Darum das von Rödel mit Unverständnis quittierte, von seiner Warte "chimärisch anmutende" deutsche maritime "Pochen auf Selbständigkeit". Aus diesem Unverständnis heraus stellt Rödel dann die Weichen, um einer eher traditionellen Linie der Tirpitz-Deutung zu folgen, die dem Admiral in bekannter Weise anlastet, mit seiner "ungebremsten Marineexpansion" den deutsch-britischen Gegensatz hervorgerufen zu haben. Die von "Tirpitz-Apologeten" ins Feld geführte These vom britischen "Handelsneid", aus dem die schließlich im Krieg mündenden Spannungen auch ohne Flottenbau erwachsen wären, muß er daher, mit allerdings sehr schwacher Begründung, "ins Reich der Legenden" verweisen. Ebenso muß er den Imperialismus der Briten und anderer potentieller Wettbewerber um Weltgeltung kleinreden. So stößt Rödel zwar zu der Einsicht vor, daß man den rücksichtslosen Imperialismus Englands und der USA zwischen 1896 und 1902, der von "keinem der deutschen weltpolitischen Abenteuer erreicht" worden sei, berücksichtigen müsse, um die "Weltsicht, die sich bei den politisch Verantwortlichen in Deutschland um die Jahrhundertwende etabliert hatte", angemessen "verstehen" zu können, doch ist dies nicht mehr als Rhetorik, wenn solche löblichen Vorsätze nur in der Warnung vor "Aufrechnung" und "Rechtfertigung" enden. Wäre Rödel solchen methodischen Vorgaben gefolgt, dann böte seine Studie mehr als nur eine interessante, vergleichende Zusammenstellung der "Seekriegsbilder" um 1900, die letztlich eben doch am gewohnten Platz hängen, nämlich unverrückbar dort, wo der Name Tirpitz ein Synonym für die deutsche Aggression gegen England ist.

Anders Hobson: Auch er liefert ein Panorama der internationalen seestrategischen Diskussionen. Wer seine englische Fassung zuerst gelesen hat, die 2002 erschien, als Rödel seine Magisterarbeit gerade fertigstellte, dürfte das Werk des jungen Bambergers über weite Strecken sogar als überflüssig verwerfen, denn Hobson informiert umfassender und genauer - besonders über "Navalismus, Strategie und Geschichte in den Theorien Mahans".

Entscheidender ist jedoch, was er daraus macht. Er verharrt nämlich nicht in der germanozentrischen Perspektive Rödels, für den immer noch die von Eckart Kehr (1930) inaugurierte, von Volker R. Berghahn (1971) ausgebaute Deutung des Tirpitz-Plans als innenpolitische Machterhaltungsstrategie maßgebend ist. Eine solche volkspädagogisch motivierte Interpretation erstickt für Hobson jeden Versuch des Vergleichs mit dem maritim grundierten Imperialismus anderer Länder. Mit den "sozialimperialistischen" Machterhaltungsinteressen der "Junkerklasse" habe Tirpitz' Flottenplanung kaum etwas, mit dem bürgerlich-liberalen Expansionismus eines keineswegs spezifisch deutschen Hochkapitalismus hingegen sehr viel zu tun. Aus dieser gesellschaftspolitischen These schlußfolgert Hobson: "Es ist schwer, im wilhelminischen Navalismus - im Gegensatz zu seiner Radikalisierung zwischen den Kriegen - eine besonders aggressive Form des Expansionismus zu erkennen. Die autoritären Strukturen des wilhelminischen Staates bargen die idealen Voraussetzungen für ein aus der Seemachtideologie entstandenes Programm. In seinem bombastischen, letztlich jedoch vergeblichen Streben war jener Imperialismus zur See aber doch ein typisches Zeichen seiner Zeit."

Selbst der zeithistorische Laie vernimmt bei dieser stringenten Argumentation das Knirschen, das anzeigt, wie hier der tragende Pfeiler vom "Primat der Innenpolitik" zusammenbricht, der das von Hans-Ulrich Wehler und seiner Schule im Anschluß an Kehr und Berghahn aufgebaute Konstrukt vom imperialistischen Sonderweg des Bismarckreiches gestützt hat.

Obwohl auch Hobson daran festhält, daß Tirpitz' "Risikoflotte" den deutsch-englischen Gegensatz verschärfte, holt er diesen Antagonismus dorthin zurück, wohin er gehört, in die "Normalität" des Imperialismus als "weltweites Phänomen". Angesichts des immer noch tiefsitzenden Einflusses der These von der "Einzigartigkeit" wilhelminischen Weltmachtstrebens ist Hobsons Werk als Pionierleistung nachdrücklich zu empfehlen.

Christian Rödel: Krieger, Denker, Amateure. Alfred von Tirpitz und das Seekriegsbild vor dem Ersten Weltkrieg, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, 234 Seiten, gebunden, 48 Euro

Rolf Hobson: Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914, Oldenbourg Verlag, München 2004, 388 Seiten, gebunden, 34,80 Euro

Großadmiral Alfred von Tirpitz in Paradeuniform ("Erste Geige") ,Porträtaufnahme um 1910: Normalität des Imperialismus als weltweites Phänomen


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen