© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/04 20. August 2004

Konkurrenz statt Multikultur
von Jost Bauch

Zwar hat die These Samuel Huntingtons vom "clash of civilisations" weltweit Beachtung gefunden, sein Gesamtwerk ist aber nach wie vor so gut wie unbekannt. Jene Kernthesen, die er im wesentlichen in der Zeitschrift Foreign Affairs entwickelt hat, erhalten dadurch eine neue Zielrichtung.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die unter anderen von Francis Fukuyama 1989 vorgetragene These vom "Ende der Geschichte", da nach der Überwindung von zwei Totalitarismen die liberale Demokratie sich im Prinzip weltweit als "definitive Regierungsform der Menschen" durchgesetzt habe. Die Evolution der politischen Ideengeschichte und ihrer Ideologien sei damit zu ihrem Ende gekommen. Diesem "One world"-Optimismus setzt Huntington seine These vom zunehmenden Kampf der Kulturkreise entgegen. Politisch-ideologische Kriege zwischen Staaten verlieren zwar an Bedeutung, dafür treffen nunmehr die verschiedenen Kulturkreise aufeinander, und die großen Konfliktlinien werden zwischen den Fronten der unterschiedlichen Kulturkreise verlaufen.

Dabei spielen ideologisch-politische oder ökonomische Konflikte eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum stehen kulturelle Konflikte, da sich Kulturkreise durch Geschichte, Sprache, Kultur, Tradition und vor allem durch Religion unterscheiden. Huntington macht sechs global relevante Kulturkreise aus: den sinischen Kulturkreis mit dem Kernstaat China, den japanischen Kulturkreis, den hinduistischen Kulturkreis mit dem Kernstaat Indien, den islamischen Kulturkreis, den westlichen Kulturkreis, den orthodoxen Kulturkreis.

Zu den sechs genannten Kulturkreisen gesellen sich noch zwei "Quasi-Kulturkreise": Lateinamerika und Afrika. Lateinamerika ist durch Christentum und Sprache an den Westen angedockt, Afrika ist noch zu heterogen und chaotisch, um einen eigenen kulturellen Status von globaler Bedeutung innezuhaben.

Seit etwa 500 Jahren ist, so Hun-tington, der westliche Kulturkreis mit den Kernregionen USA und Europa und dem Christentum als Kernreligion global dominierend. Allerdings verfällt zunehmend diese Vormachtstellung, da der sinische und der islamische Kulturkreis sie in Frage stellen und selber nach Hegemonie streben. Mit Vehemenz widerspricht Huntington der Vorstellung, daß mit der wirtschaftlichen Modernisierung, die mit der Globalisierung einhergeht, eine kulturelle Verwestlichung erfolgt. Den Protagonisten der "Coca- colonization" unterlaufe ein fundamentaler Fehler, wenn sie glauben, daß der Genuß von westlicher Limonade, das Tragen von Jeans, das Hören westlicher Pop-Musik die kulturelle Bindung und Geisteshaltung verändern und verwestlichen würde: "Drinking Coca Cola does not make Russians think like Americans any more than eating sushi makes Americans think like Japanese" (Huntington 1996). Die Vorstellung, materielle Modernisierung gehe Hand in Hand mit kultureller Verwestlichung, ist nach Huntington grundlegend falsch.

Coca-Cola-Trinken verleiht Russen nicht das Denken der Amerikaner, genauso wie Sushi-Essen Amerikaner nicht zu Japanern macht. Technik und Modernisierung führen nicht automatisch zur Verwestlichung.

Im Gegenteil: Die materielle Modernisierung potenziert die Reflexion auf das eigene kulturelle Erbe. Der Westen hatte seine kulturelle Identität auch schon lange ausgeprägt, bevor er "modern" war. So gelingt es dem Westen trotz materieller Modernisierung immer weniger, seine Werte in andere Kulturkreise hineinzutragen. Das benevolente Ziel, die Menschenrechte beispielsweise zu universalisieren, erscheint in anderen Kulturen als "Menschenrechtsimperialismus", gepaart mit der Intention, die westliche Hegemonie zu stabilisieren. Huntington rät insbesondere den USA, den Werteexport auch in wohlmeinender Absicht zu unterlassen und ihre Politik auf eine multipolare Welt einzustellen.

Der sinische Kulturkreis leitet sein neues Selbstbewußtsein aus seinem ökonomischen Erfolg ab. So wurden im Rahmen der "Singapurer Kulturoffensive" von führenden Politikern die Vorzüge der konfuzianistischen Kultur gerühmt: Ordnung, Disziplin, Fami-lienorientierung, harte Arbeit, Kollektivismus und Enthaltsamkeit. Der Westen dagegen stehe für Hemmungslosigkeit, Faulheit, Individualismus, Kriminalität, Mißachtung von Autorität. Der islamische Expansionismus dagegen rekurriert auf Bevölkerungswachstum. In allen muslimischen Gesellschaften macht der Anteil der 15- bis 24jährigen mittlerweile über 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die islamische Erneuerung ist dabei - so paradox das klingen mag - ein Produkt der Modernisierung. Träger der radikalen Islami-sierung sind weniger bäuerliche Analphabeten, es sind modern ausgerichtete und modernste Technologie nutzende junge Menschen aus den Eliten. Besonders Studenten aus den Naturwissenschaften und junge gebildete Frauen haben eine hohe Affinität zum islamischen Fundamentalismus.

In der Türkei beispielsweise ist ein regelrechter Generationenkonflikt zwischen laizistisch orientierten Müttern und islamisch orientierten Töchtern entbrannt. Wider alle vordergründige Plausibilität sind es gerade die Nutzer der materiellen Produkte des westlichen Kulturkreises, die vehement eine eigene kulturelle Identität einfordern. Warum das so ist, darüber läßt sich nur spekulieren. Vielleicht ist es gerade das Angewiesensein auf Produkte eines fremden Kulturkreises, das die jungen Moslems in die Arme eines radikalisierten Islam als Traditionsbewahrer treibt.

Jedenfalls ist nach Huntington festzustellen, daß gerade die Modernisierung, die am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die gesamte Welt erfaßt hat und westlichen Vorstellungen zufolge die religiösen Bindungen lockern müßte, in den nicht-westlichen Kulturkreisen eine Renaissance der Religion initiiert hat.

Der islamische Kulturkreis setzt heute den Westen im Grunde in zweifacher Weise unter Druck. Zum einen durch den internationalen Terrorismus, wobei fundamentalistische Gotteskrieger weniger dem Christentum an sich, sondern mehr der Areligiosität, der Dekadenz und dem Sittenverfall des Westens den heiligen Krieg, den djihad, erklärt haben. Zum anderen wird der Westen (insbesondere Frankreich und Deutschland) von einer starken Immigrationswelle aus den islamischen Staaten erfaßt, wobei die Immigranten die kulturelle Assimilation verweigern und islamische kulturelle Inseln gründen.

Diese geringe Assimilationsneigung hängt nach Huntington damit zusammen, daß der Islam eine mit anderen Kulturkreisen "unverträgliche Kultur" ist. Dort, wo der Islam an andere Kulturkreise angrenzte, kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen, sei es in Zentralasien, in Nordafrika, in Indonesien, im Kaukasus und auch im Balkan. Überhaupt ist es nach Huntington ein Witz der Geschichte, daß die USA und die Nato mit ihrer Intervention zur Gründung des ersten islamischen Staates in Europa (Bosnien) beigetragen haben.

Wie sollte der Westen auf diese Herausforderung reagieren? Für Huntington ist klar, daß die USA als siegreiche Supermacht des Kalten Krieges die Selbsteinschätzung aufgeben sollten, das zivilisatorische und kulturelle Zentrum einer auf sie ausgerichteten Welt zu sein. Denn es gibt nach Huntington eine große Diskrepanz zwischen einem großsprecherischen moralischen Auftreten der USA, ihren militärischen Ressourcen und vor allen Dingen einer geringen Bereitschaft der Bevölkerung, unter Hinnahme von größeren Verlusten an Mensch und Material zu intervenieren. Langfristig müssen die USA unter diesen Umständen als "hohler Hegemon" erscheinen. Die USA sind ohne Zweifel die Führungsmacht der westlichen Welt, einer Rolle als Weltführungsmacht können sie dagegen auf Dauer nicht gerecht werden. Die USA sollten sich so von ihrem Menschenrechtsidealismus (der die Rolle als Welt-Hegemon rechtfertigt) lösen und sich den realen machtpolitischen Interessen des Westens zuwenden. Außenpolitisch ist dabei eine Vertiefung der transatlantischen Beziehung zum "alten" Europa unerläßlich. Die transatlantische Beziehung soll dabei Vorrang vor der Einigung Europas haben, weil eine weitere europäische Integration den Westen im Grunde in zwei Lager spaltet.

Dies kann nach Huntington nur gelingen, wenn man Deutschland dem machtpolitischen Einfluß Frankreichs entzieht, das eine antihegemoniale Koalition gegen die USA in Europa anführt. Positiv sieht er dabei die Osterweiterung Europas, eine Nato-Mitgliedschaft der Türkei und Griechenlands dagegen sollte gut überdacht werden, weil beide Länder jeweils einem anderen Kulturkreis angehören und beide Länder nach dem Ende der kommunistischen Bedrohung sich auch stärker wieder an ihren jeweiligen Kulturkreis binden werden.

Innenpolitisch spricht sich Huntington für eine Erneuerung und Revitalisierung der westlichen, abendländischen Kultur aus. Nur durch eine Rückbesinnung auf die "alten" christlichen Werte und Traditionen läßt sich dem Expansionismus anderer Kulturkreise Einhalt gebieten. Die Bedrohung des Westens durch andere Kulturkreise bekommt ja dadurch eine besondere Brisanz, weil der Westen selber einen absterbenden, im Prozeß des Verfalls befindlichen Kulturkreis darstellt. Kulturkreise, die sich selbst als Höhepunkt und Abschluß der Zivilisationsgeschichte begreifen (wie der Westen nach dem Ende des kalten Krieges), sind in der Regel Kulturkreise im Niedergang. Auf das goldene Zeitalter folgt rasch der innere Zerfall.

Im westlichen Kulturkreis sind die Anzeichen der "inneren Fäulnis" unübersehbar: sinkendes Wirtschaftswachstum, sinkende Spar- und Investi-tionsraten, dramatischer Geburtenrückgang und Überalterung, schwindende Bedeutung des Christentums und moralischer Zerfall, Zunahme des asozialen Verhaltens (Kriminalität, Drogenkonsum, Gewaltbereitschaft), Zerfall der Familie, Rückgang des sozialen Engagements, Autoritätsverfall der Institutionen, Kult um individualistische Selbstverwirklichung und hedonistisches Verhalten, Absinken von Bildung und akademischen Leistungen. Der westliche Kulturkreis verliert durch die oben skizzierten Entwicklungen die Fähigkeit, seine Kultur, seine evolutionären Errungenschaften, seinen Werte-kanon zu verteidigen. Deutliches Signal dafür ist der Multikulturalismus.

Interessant ist, daß die politischen Schlußfolgerungen von Huntingtons vielbesprochenem Buch gar nicht thematisiert wurden. Dabei fordert er kulturelle Homogenität und eine Revitalisierung europäischer Werte.

Es gelingt immer weniger, die Immigranten zu integrieren, die Diasporagemeinden ausbilden und so im Westen die ehemalige kulturelle Homogenität durch kulturelle Divergenz ersetzen. Nach Huntington ist die größte Bedrohung für die kulturelle Identität des Westens der Multikulturalismus, der von einer kleinen, aber einflußreichen Minderheit von linken Intellektuellen und Publizisten propagiert wird. Zwischen diesen Multikulturalisten und den Bewahrern des westlichen Kulturerbes tobe der "real clash" der Kulturen. Schwenkt der Westen nicht um, indem er wieder auf kulturelle Homogenität setzt und das multikulturelle Projekt verwirft, sei auf die Dauer der Bestand des westlichen Kulturerbes gefährdet.

Interessant ist, daß die weitgehenden Konklusionen Huntingtons, insbesondere seine Ablehnung des Multikulturalismus, sein Plädoyer für die Revitalisierung abendländischer Werte, von den Repräsentanten der öffentlichen Meinung so gut wie gar nicht rezipiert werden. Vermutlich werden diese Instanzen speziell in Deutschland durch die Thesen Huntingtons in kognitive Dissonanz versetzt, so daß aus der vielschichtigen Argumentation Huntingtons nur das Schlagwort vom Kampf der Kulturen erwähnenswert erscheint. Selbst in den USA scheint die Diskussion um die Thesen Huntingtons un-verkrampfter und offener als speziell in Deutschland zu sein.

Natürlich sind viele Thesen Huntingtons diskussionswürdig und müssen sich einem kritischen Diskurs stellen. Warum ist sich zum Beispiel Huntington so sicher, daß der sich momentan abzeichnende Kampf der Kulturen einen derart epochalen Charakter hat? Vielleicht ist ja die gegenwärtige Situation als Rückzugsgefecht der Kulturen im Übergang zu einer Weltgesellschaft zu deuten, wie das Soziologen wie Niklas Luhmann beobachtet und beschrieben haben. Dann hätten die "One world"-Euphoristen letztlich doch recht.

Huntington würde auf diese Einwürfe antworten, daß die Entwicklung zu einer Weltgesellschaft mit der These vom Kampf der Kulturen ohne weiteres kompatibel ist. Im Gegenteil: Die Entwicklung hin zu einer Weltgesellschaft fordert geradezu zu einer Auseinandersetzung der Kulturräume heraus, weil sich diese Räume zunehmend kommunikativ vernetzen, sie also nicht mehr im Zustand des unvermittelten Nebeneinanders und kulturellen Separatismus existieren. Die Wahrnehmbarkeit und generelle kommunikative Erreichbarkeit anderer Kulturkreise zieht gleichsam automatisch eine stärkere Profilierung der jeweiligen kulturellen Identität nach sich. Jedenfalls kann mit der These der Entwicklung zu einer Weltgesellschaft nicht unterstellt werden, daß sich in diesem Entwicklungsprozeß die Kulturkreise "kon-soziativ" zueinander verhalten. Wie die "alten" territorial begrenzten Gesellschaften von Klassenkonflikten und politischen Auseinandersetzungen geprägt waren, so wird auch eine pro futuro anzunehmende Weltgesellschaft von sozialen und kulturellen Konflikten geprägt sein. Huntington hat eben doch für die soziologische und politische Diskussion viel zu bieten.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Zuletzt erschien von ihm: "Krankheit und Gesundheit als gesellschaftliche Konstruktion. Gesundheits- und medizinsoziologische Schriften 1979-2003".

Foto: Erste bemannte Raumfahrt in China wird für Werbezwecke genutzt : Eine nicht-westliche Tradition könnte besser geeignet sein, das "Projekt der Moderne" weiterzuführen als der Westen selbst.


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