© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/04 13. August 2004

Die Vernunft siegt
Rechtschreibreform I: Die publizistischen Marktführer einigen sich auf das bewährte Schriftdeutsch und stellen damit die Weichen für den Ausstieg
Thomas Paulwitz

Die größten überregionalen Zeitungen werden demnächst wieder im bewährten Deutsch gedruckt. Nachdem schon die FAZ der neuen Rechtschreibung nach kurzer Zeit den Rücken gekehrt hatte, haben nunmehr mit dem Springer-Verlag (Bild, Welt und WamS), dem Spiegel und der Süddeutschen Zeitung die größten Blätter dieses Landes ihre orthographischen Wurzeln wiederentdeckt und damit die Reform der Rechtschreibung praktisch unterminiert.

Was den Widerstand gegen die Rechtschreibreform auszeichnet, sind nicht nur die besseren inhaltlichen Argumente, sondern auch viel Geduld; denn die ist notwendig, wenn man wie David gegen Goliath gegen ein über Jahrzehnte gewachsenes mächtiges Bündnis aus Wörterbuchverlagen, institutionalisierten Schreibreformern und Kultusbürokraten antritt. So haben die vielen Initiativen von Lehrern, Eltern, Schriftstellern, Sprachwissenschaftlern, Journalisten, Juristen und besorgten Bürgern vor allem eines gemeinsam: den Willen, nicht aufzugeben, auch in scheinbar aussichtsloser Lage. Dazu gehörte auch, sich gefallen zu lassen, als Buchstabenzähler hingestellt zu werden, als Kämpfer gegen Windmühlenflügel. Daß hartnäckiger Protest aber auch von Erfolg gekrönt sein kann, zeigt sich in diesen Tagen.

Wenige Reformer mit Einfluß auf die Kultusbürokratie

Die Wurzeln der Rechtschreibreform reichen weit zurück. Seit Bestehen der Bundesrepublik befaßt sich die Kultusministerkonferenz (KMK), von der Öffentlichkeit wenig beachtet, mit einer Reform der Rechtschreibung. Dabei griff man auf Pläne des nationalsozialistischen Reichserziehungsministers Bernhard Rust zurück. Dessen 1941 eingesetzte Orthographiekommission unterbreitete Vorschläge, die wiederum auf Vorarbeiten aus den 1930er Jahren zurückgingen. 1944 ordnete Adolf Hitler an, die Arbeiten an der Reform bis Kriegsende zurückzustellen. Damals wie heute ging es den Reformern darum, Fremdwörter in der Schreibweise einzudeutschen, mehr groß und auseinander zu schreiben und nach kurzem Selbstlaut ein Doppel-s zu verlangen. Diese von Johann Christian August Heyse Anfang des 19. Jahrhunderts erfundene Doppel-s-Schreibung hatte Österreich bereits 1879 eingeführt. Sie war 1902 wieder abgeschafft worden, weil sie sich nicht bewährt hatte. Heute ist die Heysesche s-Schreibung das Vorzeigestück der vermeintlich "neuen" Rechtschreibung, das Kritiker auch als Geßlerhut der Rechtschreibreform bezeichnen. Es beschert uns so lesefeindliche Wörter wie "Missstand", "Nussschokolade" oder "Schlussstrich".

Die oft verworfenen Ladenhüter der Rechtschreibbastler werden der deutschen Sprachgemeinschaft Mitte der 1990er Jahre wieder aufgetischt. Über Jahrzehnte hat eine kleine Gruppe von Reformern den Einfluß auf die Kultusbürokratie immer weiter erhöht. 1956 setzen die Kultusminister auf Druck harter Lobbyarbeit einen Arbeitskreis für Rechtschreibregelung ein, der aber mit seinen "Wiesbadener Empfehlungen" scheiterte. Mit der Gründung des Instituts für deutsche Sprache (IdS) gibt es 1964 einen ersten staatlich geförderten Stützpunkt für die Reformer. 1973 stimmt die KMK sogar zunächst einer gemäßigten Neuschreibung zu. Wegen des Widerstandes einzelner Kultusminister verschwand diese Reform wieder in den Aktenschränken. 1977 wird am IdS die Kommission für Rechtschreibfragen gegründet. Zehn Jahre später beauftragen KMK und Bundesinnenministerium das IdS und die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), Vorschläge für eine Rechtschreibreform zu erarbeiten. Der Chaos-Expreß nimmt Fahrt auf. Der erste Entwurf von 1988, der aus Versehen an die Öffentlichkeit gelangt, ruft Kopfschütteln und Gelächter hervor: "Der Kapiten gedänkt Ale zu fangen."

Nach drei internationalen Konferenzen 1986, 1990 und 1994 in Wien, abgehalten unter strengster Geheimhaltung, erfährt die Öffentlichkeit durch die "Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung" im Dezember 1994 von der Dudenredaktion erstmals einige Einzelheiten der geplanten Reform. Im Dezember 1995 stimmen KMK und Ministerpräsidenten zu, verlangen jedoch Nachbesserungen. Deswegen muß die bereits gedruckte Duden-Auflage eingestampft werden. Am 1. Juli 1996 unterzeichnen Vertreter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie fünf weiteren Ländern mit deutschsprachigen Minderheiten (Belgien, Ungarn, Rumänien, Italien, Liechtenstein) die "Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung". Nur einen Tag später erscheint das Rechtschreibwörterbuch von Bertelsmann, das der Verlag an alle 40.000 deutschen Schulen verschenkt. Der neue Duden, dessen Privileg durch die Neuregelung aufgehoben ist, kommt Ende August heraus. Eine beteiligte Person wird später erklären, daß die Absichtserklärung nur deswegen unterzeichnet wird, "weil Bertelsmann schon gedruckt" hat. Erst die Wörterbücher, die sich bei der Auslegung der Reformregeln teilweise widersprechen, verdeutlichen der breiten Öffentlichkeit das katastrophale Ausmaß der Reform.

Verleger Matthias Dräger ist einer der ersten, die sich über das Machwerk der Reformer empören, die dieses so lange wie möglich geheimgehalten haben und nun behaupten, die Kritik komme zu spät. Dräger protestiert im Herbst 1995 bei allen Kultusministern und Ministerpräsidenten, stößt aber auf wenig Gegenliebe. Am 29. November 1995 sagt der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) der Rheinischen Post: "Ich habe Hunderte von Briefen erhalten, vornehmlich aus Österreich und der Schweiz - mit der Tendenz, daß die meisten Menschen die Reform überhaupt nicht wollen."

Obwohl die Absichtserklärung ein Inkrafttreten der Reform erst zum 1. August 1998 vorsieht, führen im August 1996 zehn deutsche Bundesländer in ihren Grundschulen handstreichartig die Rechtschreibreform ein. Die erste Allensbach-Umfrage zur Rechtschreibreform ergibt, daß 75 Prozent der Deutschen die Rechtschreibreform ablehnen. Im Oktober unterzeichnen über 300 Intellektuelle auf der Buchmesse auf Initiative des Deutschlehrers Friedrich Denk die "Frankfurter Erklärung" gegen die Reform. Es folgt eine Anzeigenkampagne der Reformgegner. Die Kultusminister weisen umgehend in einer vom IdS formulierten "Dresdner Erklärung" die Forderung nach Rücknahme der Reform zurück.

In der Folge gründen sich zahlreiche Bürgerinitiativen gegen die Rechtschreibreform: "Wir gegen die Rechtschreibreform in Bayern" wird am 19. November 1996 gegründet und erreicht schon im Dezember die erforderliche Unterstützerzahl für ein Volksbegehren in Bayern, das aufgrund strategischer Erwägungen nicht gestartet wird. Am 20. Februar 1997 entsteht die Initiative "Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform", am 31. Mai wird der Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege (VRS) gegründet. Er veröffentlicht im Oktober eine Dokumentation über mittlerweile 21 Initiativen gegen die Rechtschreibreform ("Der 'stille' Protest").

Der Bundesstag1998: "Die Sprache gehört dem Volk!"

Der Widerstand zieht jetzt auch vor die Gerichte. Ende Juli 1997 stoppt mit dem Verwaltungsgericht Wiesbaden erstmals ein deutsches Gericht die Einführung der Reform. Im Oktober erklärt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die vorzeitige Umsetzung der Reform für rechtswidrig. Ministerpräsident Gerhard Schröder setzt daraufhin die Rechtschreibreform an Niedersachsens Schulen aus und wartet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ab. Im März 1998 liegen dreißig Gerichtsentscheidungen zur Reform vor. Vor den Verwaltungsgerichten steht es 13:10 für die Reform. In zweiter Instanz entscheiden fünf Gerichte für die neuen Regeln, zwei dagegen. Das Bundesverfassungsgericht weist jedoch am 14. Juli 1998 die Verfassungsbeschwerde eines Lübecker Elternpaares ab. Die Bundesregierung wird vor der Verkündung des Urteils über seinen Inhalt unterrichtet, wodurch ein schlechtes Licht auf die Verfassungsrichter fällt.

Im März 1998 spricht sich der Bundestag gegen die Reform aus und beschließt: "Die Sprache gehört dem Volk!" Wie bereits Horst Haider Munske tritt Peter Eisenberg unter Protest aus der Rechtschreibkommission aus. Er entwickelt daraufhin einen Kompromißvorschlag, für den er die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewinnen kann. Im Mai warnen 600 Germanistik-Professoren vor der "fehlerhaften Regelung", die keinesfalls verbindlich gemacht werden dürfe. Nichts hilft. Sogar der Volksentscheid in Schleswig-Holstein, der im September die Rechtschreibreform in dem Bundesland aufhebt, wird ein Jahr später vom Landtag einstimmig rückgängig gemacht.

Mit der Umstellung der Nachrichtenagenturen und Tageszeitungen auf eine abgespeckte Version der Rechtschreibreform zum 1. August 1999 würgen die Medien die öffentliche Diskussion ab und erklären sie für erledigt. Sie veröffentlichen kaum noch Artikel und Leserbriefe, die sich mit der Reform auseinandersetzen. Dies ist mit ein Grund für die Gründung eines Sprachrohrs der Rechtschreibreformgegner: Im Mai 2000 erscheint erstmals die Deutsche Sprachwelt. Darin deckt der Erlanger Germanistikprofessor Theodor Ickler auf, daß die Rechtschreibkommission an den Kultusministern vorbei und in Absprache mit den Wörterbuchverlagen bereits heimlich die Reform der Reform betreibt. Dieser Artikel macht Die Welt hellhörig, die Ickler Platz einräumt und weitere kritische Artikel veröffentlicht. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher bekennt später, daß diese Beiträge der letzte Anstoß für die FAZ sind, zum 1. August 2000 aus der Rechtschreibreform auszusteigen. Im selben Jahr erscheint Icklers "Rechtschreibwörterbuch", das als einziges aktuelles Wörterbuch die bewährte Schreibweise darstellt.

Während die Reformer den Rückbau der Reform in ihrem zweiten Kommissionsbericht, den sie im März 2000 freigeben, noch verschweigen, führen sie im dritten Bericht, der Anfang 2002 aufgedeckt wird, eine "Toleranz-Metaregel" ein, mit der sie bewährte Schreibweisen als Varianten wieder zulassen wollen. Die Empörung über diese Chaos-Regel ist groß, und der Widerstand formiert sich wieder stärker. In einer von der Deutschen Sprachwelt mitgetragenen Resolution für die Wiederherstellung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung versammeln sich seit 2002 Prominente und Hunderte von Institutionen. Mitunterzeichner und Dichter Reiner Kunze verfaßt im selben Jahr die vielbeachtete Denkschrift "Die Aura der Wörter". Zehetmair bekennt im April 2003: "Aus heutiger Sicht und noch deutlicherer Kenntnis der deutschen Wesensart würde ich die Sache heute ganz zum Scheitern bringen." Im Oktober fordern internationale Schriftsteller, im November zahlreiche Akademiepräsidenten die Rücknahme der Reform.

Seit dem 3. Januar 2004, dem 175. Geburtstag von Konrad Duden, vergeht kaum eine Woche, in der sich nicht jemand für die Rücknahme der Rechtschreibreform einsetzt: Sprachvereine, Juristen, Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und jetzt auch vermehrt wieder Politiker. Den Anfang machte die Deutsche Sprachwelt, die aufrief, die einheitliche Rechtschreibung Duden zum Geburtstag zu schenken. Zum Welttag des Buches im April machte sie mit Erfolg nochmals auf die Resolution aufmerksam. Im Januar wurde außerdem der vierte Kommissionsbericht bekannt, der Tausende Änderungen an der Reform in Aussicht stellte. Infolgedessen erhob sich in den Medien ein Proteststurm, der bis heute nicht nachgelassen hat. Die KMK entmachtete daraufhin die Rechtschreibkommission. Da ihre Zusammenarbeit mit der Akademie für Sprache und Dichtung scheiterte, planen die Kultusminister jetzt einen "Rat für deutsche Rechtschreibung". Während sich die KMK im Aktionismus verheddert und die Reform der Reform weitertreibt, sehen Spiegel und Springer diesem Treiben nun nicht mehr länger zu. Der Widerstand gegen die Rechtschreibreform ist ungebrochen. Am Ende siegt die Vernunft.

Foto: Aufmacher aus JF 33/00: Hartnäckiger Protest von Erfolg gekrönt sein, Volkspädagogischer Anschlag / Neue Übersichtlichkeit Karikaturen aus der "JUNGEN FREIHEIT" 33/99 (l.) und 34/00 zur Rechtschreibreform: "Rechtsextremistisches Kampagnenthema"

 

Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der vierteljährlich erscheinenden Zeitung "Deutsche Sprachwelt", Postfach 1449, 91004 Erlangen.


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