© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/04 13. August 2004

Den Blick für die Realitäten verloren
Proteste gegen Hartz IV: Erstmals haben mehrere zehntausend Menschen an den neuen Montagsdemonstrationen in Mitteldeutschland teilgenommen
Paul Leonhard

Wir wollen Arbeit" und "Hartz IV beschlossene Sache - dafür gibt es Rache", hieß es im brandenburgischen Jüterbog. "Weg mit der Agenda 2010" und "Gegen Hartz und Armut" in Magdeburg. Die Sozialpolitik der Bundesregierung treibt die Bürger immer zahlreicher auf die Straße. Mit selbstgemalten Sprüchen, Fahnen und Trillerpfeifen artikulieren sie ihre Verärgerung und vor allem ihre Unsicherheit.

All das, was man bisher mit der sozialen Marktwirtschaft verband, soll plötzlich Vergangenheit sein? Die Politikerversprechen der vergangenen Jahre sind Dutzende Mal gebrochen. Diese zahlen sich dagegen Spitzengehälter. Sogenannte Topmanager lassen die Milliardenverluste, die sie eigentlich selbst zu verantworten hätten, die Belegschaften ausbaden. Die Schere zwischen den vielen, denen der Staat in die Tasche greifen will, und den wenigen, die sich dumm und dämlich verdienen, hat sich in letzter Zeit immer weiter geöffnet - das ist die weitverbreitete Stimmung.

Da die Regierungsparteien bei Wahlen keine Alternative anbieten und ihre Wahlversprechen nicht halten, entsinnen sich viele der friedlichen Demonstrationen, bei denen schon einmal das Volk seine Macht erkannt hat. Noch ist es nicht "das Volk", das gegen die Regierungspolitik demonstriert, sondern sind es nur kleine Aktivistengruppen. Aber die ersten Zahlen lassen bereits aufhorchen: über 10.000 in Leipzig, 12.000 in Magdeburg, in Halle und Dessau jeweils 3.000, in Dresden und Rostock 2.500, in Senftenberg etwa 2.000. Auch in Nordrhein-Westfalen gingen mehrere Hunderte auf die Straße.

Es geht den meisten einfach um soziale Gerechtigkeit, sie wollen nicht in der Armutsfalle stecken. Zuvor war es bereits die evangelische Kirche, die in vielen Gemeinden in offenen Veranstaltungen "Hartz IV" thematisierte, die Räume zur Verfügung stellte, in denen die Menschen ihre Sorgen und Ängste artikulieren konnten. In Görlitz kamen beispielsweise Hunderte in die Frauenkirche, in der vor 15 Jahren auch die ersten Friedensgebete stattfanden.

Manchmal sind Kleinigkeiten der letzte Auslöser, daß die Massen mobil werden. Die Berichte über die hohen "Buschzulagen" für überzählige westdeutsche Postbeamte, die in Mitteldeutschland Arbeitsagentur-Mitarbeiter in die neuen Formulare einweisen sollten, waren ein solcher Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Auf einmal wurde deutlich, wie weit die "westdeutsche" Regierungsdenke von der "ostdeutschen" Realität entfernt ist.

Hartz IV sei für "westdeutsche Verhältnisse" gemacht und für viele Menschen im Osten eine Zumutung, hat der wahlkämpfende Potsdamer SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck erkannt. Und er bekennt sich immerhin zur Demokratie: "Wenn Menschen in Bedrängnis sind, dann müssen sie das auch zum Ausdruck bringen können."

Wer jahrelang gearbeitet und gespart hat, verliert fast alles

Der Streit um den Begriff "Montagsdemonstrationen" ist dabei nebensächlich. Auch wenn es schon bezeichnend ist, daß ausgerechnet SPD-Politiker, die in den achtziger Jahren ganz heftig mit der SED kungelten und mit der DDR-Opposition nichts zu tun haben wollten, nun entschieden gegen den Vergleich mit den Demonstrationen des Herbstes 1989 protestieren. Ist das bereits die Angst vor dem Volk, die beispielsweise SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement umtreibt, wenn er den Protestierern das Recht auf den bei der friedlichen Revolution geprägten Begriff "Montagsdemonstration" abspricht? Als ob es darauf ankäme.

Andere SPD-Politiker wie der frühere SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz haben völlig den Blick für die Realitäten verloren, wenn sie die Demonstrationen "als Rückstände marxistischer Indoktrination aus 50 Jahren SED" einschätzen.

Nachgerade zynisch wirkt es, wenn Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) kurz vor den Landtagswahlen den Populismus auf die Spitze treiben, indem sie - zumindest indirekt mitverantwortlich für die Hartz IV-Gesetze - ihre Beteiligung "an den Montagsprotesten erwägen". Das sei pure Heuchelei und verdeutliche, für wie dumm die Politiker das Volk halten, so die Kritiker. Noch befremdlicher ist aber, wenn sich führende Politiker gegenseitig "den völligen Verlust von Verantwortungsbereitschaft" (SPD-Chef Franz Müntefering) vorwerfen, statt sich den Demonstranten zu stellen.

Was tun die Spitzenpolitiker? Spricht Bundeskanzler Gerhard Schröder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen über die Situation der Nation? Versucht er in eigener Person, den Menschen die Probleme zu erläutern? Nein, die Regierung, deren einzige, aber Millionen Euro teure Antwort auf die immer weiter steigende Arbeitslosigkeit die Umtaufe der Arbeitsämter in "Arbeitsagenturen" war, versteckt sich hinter teuren Hochglanzbroschüren, die dokumentieren sollen, daß Hartz IV nur zum Wohl der Menschen gemacht wird: Eine neue Informationskampagne der Bundesregierung wurde angekündigt.

Diese soll beweisen, daß die Agenda 2010 viele arbeitsplatzschaffende Maßnahmen enthalte und Hartz IV für Millionen eine Besserstellung bedeute. Die Adressaten der Broschüren werden aber die Regierung nicht an diesen Broschüren messen, sondern an den Lebensumständen, unter denen sie künftig existieren müssen: Bei Sozialhilfebeziehern wird draufgelegt, wer jahrelang gearbeitet und gespart hat, verliert fast alles.

Noch spüren nur wenige die harten Einschnitte, die auf breite Bevölkerungsschichten zukommen. Dann aber werden sich die Straßen vielleicht nicht nur montags mit Demonstranten füllen. Es geht schließlich um die Existenz des "kleinen Mannes" und seiner Familie.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen