© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/04 06. August 2004

Scheingefechte um Begriffe
Sozialpolitik: Die Diskussion der Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung erfolgt ohne die erforderliche Bandbreite
Bernd-Thomas Ramb

Sicher ist bei der gegenwärtigen Diskussion zur Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nur eins: Die Zeit drängt. Das defizitäre staatliche Versicherungssystem leidet unter mehreren Strukturproblemen. Erstens werden die Versicherten immer älter. Damit verbunden sinken die Versicherungseinnahmen, da die Rentner weitgehend von Beitragszahlungen befreit sind. Gleichzeitig wachsen die Ausgaben, weil die Krankheitskosten der Alten überproportional ansteigen.

Das zweite Problem, nicht nur konjunktureller Art, ist die hohe Zahl der Arbeitslosen, die aus der Budgetsicht nur kosten und keine Beiträge bezahlen. Das dritte große Problem ist das fehlende Bevölkerungswachstum. Durch die sinkende Kinderzahl vermindern sich zwar die momentanen Ausgaben für diese Bevölkerungsgruppe, langfristig fallen jedoch dadurch künftige Beitragszahler aus.

Die Strukturprobleme der GKV gleichen den Problemen bei der Pflegeversicherung. Die geplante Zusammenlegung beider staatlichen Sozialsysteme ist in so fern sinnvoll, wenn auch dadurch noch nicht die Probleme gelöst werden. Mehr noch fällt aber die Symmetrie zu den Problemen der gesetzlichen Rentenversicherung auf. Der Lösungsansatz für eines der staatlichen Sozialversicherungssysteme wird deshalb zwangsläufig auf die Lösungsvorschläge der anderen ausstrahlen. Dennoch bleiben einige spezifische Besonderheiten.

So sind gerade im Krankenversicherungssystem die Möglichkeiten der individuellen Einflußnahme auf den Versicherungsfall zu berücksichtigen. Gesunde Lebensführung, die Vermeidung unfallträchtiger Aktivitäten oder die Selbstbehandlung kleinerer Erkrankungen sind einige Aspekte, die die persönlichen Kostenrisiken beeinflussen.

Die starke Ähnlichkeit mit der Rentenproblematik hat eine Hauptrichtung der staatlichen Umorganisationspläne der GKV geprägt, die Umwandlung in eine "Bürgerversicherung". Hinter der Blendbezeichnung, die Bürgernähe vorspiegelt, versteckt sich die Ausweitung der Versicherungspflicht in der GKV. Künftig sollen nicht nur Arbeitnehmer bis zu einer bestimmten Gehaltshöhe in die GKV gezwungen werden, sondern auch Freiberufler, Selbständige und Beamte, kurz, der Personenkreis, der bislang mit einer privaten Krankenversicherung bzw. sogenannten Restkostenversicherung (für Beamte) seine Gesundheitsrisiken abdeckte.

Nach den Vorstellungen der Anhänger der "Bürgerversicherung", sollen auch die Einkommensbemessungsgrenzen weitgehend fallen. Demnach wird nicht nur das volle Einkommen ohne Grenzbetrag angerechnet, sondern auch Nichtarbeitseinkommen aus Vermietung und anderen Kapitalerträgen.

Das insbesondere von den Grünen und großen, gewerkschaftsnahen Teilen der SPD, aber auch von zahlreichen Unionspolitikern, insbesondere von der CSU, propagierte "Bürgerversicherung"-Modell ahmt die Rettungsversuche zur Finanzierung der Rentenversicherung nach, die ebenfalls mit der Ausweitung des Kreises der Versicherungspflichtigen und der gleichen Erweiterung der Einkommensbemessungsgrundlage für die Berechnung der Beiträge das alte System erhalten wollen. Die strukturellen Mängel und die bestehenden Ineffizienzen werden dadurch nicht beseitigt. Der Niedergang dieser Form des staatlichen Sicherungssystems wird möglicherweise kürzer als erhofft hinausgezögert, weil die Ineffizienz, insbesondere durch den steigenden Anreiz der unnötigen Inanspruchnahme von Leistungen, schlagartig vergrößern wird.

Einen echten reformatorischen Weg beschreitet dagegen der Alternativvorschlag der "Kopfpauschale", der gelegentlich aus propagandistischen Gründen als "Gesundheitsprämienmodell" bezeichnet wird. Prämiert wird jedoch gerade nicht die Gesundheit, wie sich auch der Beitragssatz nicht nach dem Krankheitsumfang des Einzelnen richtet. Im Gegenteil wird von jedem Versicherungspflichtigen eine einheitliche Versicherungsprämie eingefordert, die nach den Berechnungen des Sozialversicherungsexperten Rürup für einen Erwachsenen 169 Euro und für ein Kind 79 Euro pro Monat betragen soll. Eine beitragslose Mitversicherung von Ehegatten und Kindern entfällt damit ebenso wie die Bindung der Beitragshöhe an das Arbeitseinkommen.

Um mögliche finanzielle Überforderungen der Bezieher niedriger Einkommen (Rentner, Studenten, Arbeitslose) abzuwenden, wird in diesen Fällen die Übernahme der Kopfpauschale durch den Staat vorgeschlagen. Grundsätzlich soll dies auch für die Kinderbeiträge gelten. Zur Finanzierung der Staatsleistungen schlägt Rürup die Anhebung des Solidarzuschlags vor. Damit wäre die gesellschaftliche Belastung wieder gemäß der individuellen Einkommensstärke verteilt.

Der alternative Vorschlag, die Mehrwertsteuer von 16 auf 18 oder 19 Prozent anzuheben, träfe einseitig die Konsumenten. Als prinzipielles Problem bleibt die Festlegung der Höhe der Kopfpauschale. Sie muß sich letztlich an den durchschnittlichen Krankheitskosten orientieren, auf deren Umfang das Kopfpauschalen-System wenig Einfluß ausüben kann.

Dies erreicht nur ein System, das die Eigenverantwortung stärker einbezieht. Dazu müßten eine gesunde Lebensweise, die Selbstbehandlung von Bagatellerkrankungen und die Vermeidung unfall- und krankheitsträchtiger Aktivitäten bei der Festlegung der individuellen Zwangsabgaben berücksichtigt werden.

Ebenso könnte dazu das zum Tabu erklärte Thema der sogenannten "Zweiklassenmedizin" offen diskutiert werden. Eine Aufteilung der medizinischen Versorgung in eine vom Staat verwaltete Grundversorgung und eine individuell aufgestockte Zusatzversorgung wäre der ideale Kompromiß zwischen staatlichem Zwang und privater Wahlfreiheit bei der Krankheitsfinanzierung.

Die von der FDP generell geforderte Privatisierung der Krankenversicherung mag aus Gründen der ökonomischen Effizienz die beste Lösung sein, ihre Realisation läßt sich jedoch in einem Gesellschaftssystem, das die soziale Verantwortung verstaatlicht hat, kaum realisieren.


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