© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/04 06. August 2004

Die Herrschaft der Wenigen
Volksabstimmungen sind ein geeignetes Mittel, der politischen Klasse Beine zu machen
Doris Neujahr

Natürlich geht es CSU und FDP nicht oder nur zum geringen Teil um die Sache, wenn sie plötzlich für ein Referendum über die EU-Verfassung in Deutschland eintreten. Sie rechnen damit, daß sich bei der Abstimmung der Wählerunmut über das rot-grüne Chaos in Berlin entladen und der Bundesregierung das Lebenslicht ausgeblasen wird. Außerdem will Stoiber sich als der bessere, volksnahe Kandidat gegenüber Merkel empfehlen, die immer noch stupide herbetet, was sie Anfang der 1990er Jahren gelernt hat: Das bewährte Grundgesetz sehe keine Plebiszite vor. Als ob sich das nicht ändern ließe.

Prinzipiell haben Plebiszit-Befürworter recht! Und zwar gerade dann, wenn man selber eine stärkere europäische Integration für richtig hält. Diese Überzeugung ergibt sich nämlich nicht aus einem blinden Glauben an das Ende der Nationalstaaten - damit hat es noch viel Zeit -, sondern aus der Einsicht, daß Europa nur als undividierbares Ganzes einen Part in der Welt spielen kann. Dieses Ganze kann nicht einfach von oben verordnet werden, es muß auch von unten wachsen, durch die ständig erneuerte Teilhabe der Bevölkerung. Die aber hat immer mehr das Gefühl, bis in die kleinen Verästelungen ihres Lebens einer unkontrollierbaren Macht unterworfen zu sein, die sich in den Brüsseler Büroburgen verschanzt. Vor zwei Jahren beanspruchte die Brüsseler Wettbewerbsbehörde sogar ein Interventionsrecht in der Frage der deutschen Buchpreisbindung und damit eine Definitionsmacht über das geistig-kulturelle Leben in Deutschland. Nur mit Mühe konnte dieser Versuch der McDonaldisierung des Buchmarkts abgewehrt werden.

In der Londoner Times fand sich kürzlich eine Aufstellung zur EU-Verfassung. Danach würde Großbritannien sein Vetorecht in 43 zusätzlichen Bereichen verlieren, in 36 weiteren Fällen würde es seine gesetzgebende Gewalt an das EU-Parlament abtreten. Wie viele Kompetenzen verlieren die Bundestagsabgeordneten und damit die Wähler, die sie - jedenfalls formal - bestellen? Wo werden in Deutschland solche Fragen diskutiert, überhaupt aufgeworfen? Wer jetzt argumentiert, die EU-Verfassung sei nur die logische Konsequenz der Römischen Verträge, eine Abstimmung mithin überflüssig, dem sei entgegengehalten, daß 1957 jedenfalls kein Ermächtigungsgesetz unterzeichnet wurde.

Die Plebiszit-Gegner behaupten, der Bundestag sei das repräsentative Forum der Nation, in dem diese Probleme, stellvertretend für das Volk, umfassend bedacht und diskutiert würden. Was für ein Unsinn! Die Plenar- und Ausschußsitzungen, die sich mit der Abschaffung der D-Mark befaßten, waren eine Farce. In einer lebenswichtigen Frage hat der Bundestag sich als Scheinparlament à la DDR-Volkskammer aufgeführt. Der Einwand, die Plebiszit-Anhänger führten etwas ganz anderes im Schilde, ihnen passe die ganze Europäische Union nicht, läßt sich ebenfalls gegen seine Urheber kehren: Sie wollen in obrigkeitsstaatlicher Manier jeden Widerstand gegen den EU-Beitritt der Türkei ersticken!

Falsch sind auch die historischen Argumente. Die Weimarer Republik ist keineswegs durch Plebiszite zu Fall gekommen. Bei der Abstimmung über die Fürstenabfindung 1926 zeigte sich, daß die Mehrheit des Volkes nicht bereit war, eine kleine Minderheit unter Ausnahme-recht zu stellen. Der Sieg Paul von Hindenburgs gegen den Zentrumskandidaten Wilhelm Marx bei der Reichspräsidentenwahl 1925 kam deshalb zustande, weil der bayerische Ableger des Zentrums sich für Hindenburg aussprach. Übrigens lag in dem Wahlergebnis die große Chance, die Anhänger der Monarchie mit der Republik zu versöhnen, denn dem tieffrommen Hindenburg war sein Eid auf die Verfassung heilig. 1932 wurde er im Amt bestätigt und Hitler damit als Reichspräsident verhindert. Nein, die deutschen Erfahrungen mit demokratischen Plebisziten sind in Wahrheit positiv!

Viel ist vom Mißtrauen der deutschen Eliten gegen das Volk die Rede. Diese Formulierung assoziiert ein paternalistisches Verhältnis von politischer Klasse und Wählern, im Sinne des gütigen Hausvaters, der seinen Kindern viel Freiheit läßt, aber aufpaßt, daß sie - selbstverständlich nur zu ihrem eigenen Besten - gewisse Grenzen nicht überschreiten. Seine Stellung legitimiert sich durch seine natürliche Überlegenheit. Das entsprach der Lage und dem allgemeinen Bedürfnis nach dem Krieg. Die Mehrheit war ratlos, desillusioniert, verbittert und froh darüber, daß der autoritäre Konrad Adenauer die Zügel in die Hand und ein nicht minder autoritärer Kurt Schumacher den Oppositionspart übernahm.

Doch heute? Es klingt einigermaßen lächerlich, wenn die Berliner Chaostruppen auf ihren Elite-Status insistieren - eine Schutzbehauptung, um den Eigennutz zu camouflieren. Gewiß, die politische Klasse ist heute so durchlässig, daß ein berufsloser Straßenschläger sogar Außenminister werden kann. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es gibt sehr strenge Regularien, die die Politik zu einem hermetischen System machen. Aufsteigen kann nur, wer sich den Gesetzen des Politikbetriebs ganz und gar unterwirft und schon in seiner Jugend die Ochsentour durch die Instanzen beginnt. Mit dem Ergebnis, daß ein personifiziertes Mittelmaß wie Helmut Kohl 16 Jahre als Kanzler und 25 Jahre als Parteivorsitzender amtierte, während ein brillanter Seiteneinsteiger wie Kurt Biedenkopf, der die Probleme des deutschen Sozialstaates schon vor 25 Jahren haarscharf antizipierte, in der zweiten oder dritten Reihe verkümmerte.

Die politische Klasse ist zur Oligarchie geworden, zur Herrschaft der Wenigen, aber gerade nicht der Besten. Sie definiert sich über ein Versorgungs- und Patronagesystem und vermehrt sich durch konsequente Inzucht. Man kann ihr, wenn sie sich alternativlos darstellt, schon deswegen nicht widersprechen, weil das System eine Alternative gar nicht zuläßt. Plebiszite und Direktwahlen wären immerhin eine effektive Kontroll- und Einspruchmöglichkeit. Deswegen, nur deswegen formiert sich dagegen parteiübergreifender Widerstand.

Natürlich ist es nicht vorstellbar, daß Deutschland das politische System der Schweiz übernimmt, wo über jede Kleinigkeit abgestimmt werden kann. Dafür ist Deutschland zu groß, zu komplex und international zu wichtig. In grundsätzlichen Fragen aber, welche die Souveränität oder das Staatsgefüge betreffen, müssen solche Abstimmungen selbstverständlich werden.

Die EU-Verfassung wäre ein würdiger Anlaß, damit zu beginnen. Andernfalls kommt über das größte EU-Land eine Verfassung, die keiner akzeptiert, und in der Folge eine politische Krise Europas.

Foto: Grünen-Parteitag (2003): Nicht nur über Programme abstimmen, sondern auch über die EU-Verfassung


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