© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/04 23. Juli / 30. Juli 2004

Die Lüge vom modernen Individuum
von Jochen Schaare

Wilhelm von Humboldt, der große preußische Bildungsreformer und Zeitgenosse und Freund Goethes, sieht in jedem Menschen eine ursprüngliche, lernende Kraft, die ihm eine eigentümliche Entfaltung und Entwicklung ermöglicht. Aber eine solche Kraft braucht, um sich als solche zu erweisen, einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst, an dem sie tätig werden, sich üben und entwickeln kann. Der Mensch hat das natürliche Streben, den Bereich seines Wirkens und seiner Erkenntnis zu erweitern. Und je mehr sich der Mensch dem Lernen und der Welt öffnet, je mehr Stoff er an sich heranläßt, desto mehr Saiten werden in ihm angeschlagen und um so reger wird seine innere Tätigkeit.

Dabei sind die jeweilige Weltbemächtigung und Individualität keine Gegensätze. Wilhelm von Humboldt bezeichnet als "Individualität" einen Menschen, dem es gelingt, diesen Weg in Auseinandersetzung mit den kulturellen und wirtschaftlichen Vorgaben zu beschreiten und so seine Eigentümlichkeit in vielfältigster Weise und zugleich zu einem harmonischen Ganzen zu entwickeln. Dieser Mensch verkörpert in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit eine Idee, Mensch zu sein. Mit diesem Entwurf, der das Werk seiner Bildung ist, gibt er dem Volke eine neue Tiefe. Humboldt betont das Recht jedes Menschen, diesen Weg der Bildung zu beschreiten. Aber er nennt es auch die Pflicht jedes einzelnen Bürgers, durch seine Bildung zur Vollkommenheit unseres Volkes beizutragen.

Im humanistischen Menschenbild existiert also kein Ideal, das einen bestimmten Menschen mit einem ebenso bestimmten Charakter vorschreibt. In jedem Menschen wurzelt eine eigene Idee des Menschseins und des Volkes, und die Erziehung muß ihn anregen, seine Idee von Bildung und Mensch-sein in Erscheinung zu bringen. Aber Humboldt sieht auch, daß es nur wenigen Menschen gelingt, diesem Ideal zu genügen. Heute sind es die Medien mit ihrem Primitivismus, welche die Menschen von sich wegführen und die Individualität einem Massendasein opfern. Mit dieser allgemeinen Nivellierung nach unten wird Einseitigkeit, Ich-Schwäche und Egozentrismus hervorgerufen statt Harmonie und Ganzheit, statt Stärke des Selbst. Dadurch wird auch der Sinn des Lebens verfehlt. Leben heißt evolutionsgeschichtlich stets: Überwinden von Schwierigkeiten, aktive Anpassung an die materiellen Gegebenheiten des Kosmos und der Kultur. Man fördert das Verständnis in die nationalen kulturellen Standards am ehesten, wenn man nicht bloß ehrfürchtig die kulturellen Leistungen der Vergangenheit und Gegenwart anstaunt, sondern sich diese in einem Akt aktiven Strebens nach seinem Horizont aneignet. Immanuel Kant aus Königsberg in Ostpreußen hat in seiner kleinen Abhandlung "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" diese Idee dargelegt und erklärt, daß alle Lebewesen ihren Naturzweck darin finden, daß sie ihre Organe entfalten und entwickeln. Das spezifisch menschliche Organ ist die Vernunft.

Der Mensch muß sich durch seine Taten schaffen, er ist nolens volens das Ergebnis seiner Leistungen und Fehlschläge, seiner Unterlassungen und Entscheidungen, in jedem Falle also das Produkt seiner Eigenaktivität. Für den Bereich des Bildungs- und Weisheitsstrebens bedeutet dies das Bemühen, möglichst differenzierte und weitläufige Bildungsinhalte für die Entwicklung und Erkenntnis der eigenen Person wirksam werden zu lassen. Die Mittel zur Selbsterziehung bekommt man ja erst dann in den Griff, wenn der vernünftige Mensch sich mit den Künsten, mit Politik und den Wissenschaften beschäftigt, wenn er eine praktische Lebensphilosophie überhaupt ausbildet, die in der Kultur und ihrem Aufbau fundiert ist. Nicht Spielball fremder Mächte, des Zufalls, der Politik, der göttlichen Vorsehung soll der Mensch sein, sondern er entnimmt einem vorgegebenen Rahmen, seiner jeweiligen Epoche, der Kultur, seiner Familie und seinem Volk die Bausteine seines Lebens. Doch sind Fatum und Geschick allgegenwärtig, von der Geburt an bis zum Tod, jederzeit kann man von Schicksalsschlägen getroffen werden und insofern kann unsere Existenz nicht beliebig frei gestaltet werden.

Hinzu kommt noch die Produktionsweise der modernen Gesellschaften; durch die Massenproduktion von standardisierten Waren wird die Lebensweise überhaupt in der gleichen Weise standardisiert wie die verbrauchten Erzeugnisse. Die Nivellierung der Bedürfnisse, Gewohnheiten, Geschmacksrichtungen und Sitten, die daraus entsteht, ist ein Hauptmerkmal der Massengesellschaft. Das entscheidende Merkmal ist hier, daß wir es mit einem reaktiven, also nicht selbstbestimmten Verhalten zu tun haben.

Ein wesentliches Mittel des sich Bildenden und Freien ist die Welt der Bücher. Bücher sind unsere angenehmsten Freunde; sie verharren stumm auf ihren Plätzen und öffnen uns bei Bedarf ihr Gedankenmagazin. Es ist mühelos, in seiner Bibliothek Schriften in die Hand zu nehmen, aus denen die klügsten und vornehmsten Geister der Jahrhunderte und Jahrtausende zu uns sprechen. Durch Bücher von Goethe, Schiller, Humboldt, Fichte, Nicolai Hartmann, Montaigne, Seneca, Nietzsche und Schopenhauer ist man im Nu im Gespräch mit diesen Koryphäen und wird für die triste Gegenwart entschädigt. So sagt Seneca: "Bei bestimmten Geistern muß man verweilen und sich von ihnen durchdringen lassen, wenn du etwas gewinnen willst, was in der Seele zuverlässig Platz finden soll."

Von der deutschsprachigen Literatur sollte jeder, der in der deutschen Sprache schreibt, denkt und liest, möglichst viel besitzen, denn diese Literatur ist sein geistiger Ursprung und seine intellektuelle Heimat. Goethe mag hier im Mittelpunkt stehen, denn er erscheint unausschöpflich. So ist Lesen immer ein "Akt der Großherzigkeit", wir leihen dem an sich leblosen Text alle unsere Gemütskräfte, um ihn zum Sprechen zu bringen. Sind wir kleinlich, stumpf, vorurteilsbehaftet und engstirnig, dann kann das klügste Buch bei uns kein "Erlebnis" hervorrufen. So sagte der Philosoph der Aufklärungszeit Lichtenberg: "Ein Buch ist wie ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, kann kein Engel daraus herausschauen." Lesen will also durch anhaltende Übung und durch Fleiß gelernt sein. Es soll stets gelten, daß das Buch zur inneren Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit hinführt. Das Lesen auch schwieriger Bücher begünstigt die Urteilskraft und das Selbstseinkönnen, denn Intelligenz und Willenskraft gehören dazu, bei der Sache zu bleiben und diese zu einem Ende zu führen. Goethe gibt auch hier zahlreiche Beispiele gelungener Selbsterziehung, denn er war nicht nur strebsam, sondern die Weimarer Jahre zeigen ihn als unglaublich hart arbeitenden und sich bildenden Verwaltungsbeamten, Fürstenerzieher und Autodidakten der Wissenschaft.

Gute Lektüre ist Einübung in "Geistigkeit" und ein förderliches Training von "Geist haben", denn Geistigkeit wächst immer auch aus einer meditativen Stimmung und einem Abstandhalten vom Leben, einem Anstreben von Souveränität und Überblick, einem "Eindringen in die Strukturen von Realität".

Heute gehören Inseln der Stille zu den knappsten Gütern auf der Erde. Die Hauptsignaturen des Zeitalters sind Informationsüberschwemmung und Verlärmung, endloses Geschwätz mit steter Hintergrundmusik, die den Menschen einer Außensteuerung überläßt, die ihn unfähig macht, sein Selbst auszubilden. Überall steigen Lärmsäulen hoch, Stille wird nirgendwo mehr geduldet, obwohl sie doch Voraussetzung weisheitlichen Lebens ist. Ein anschwellendes Wort-, Musik- und Lärmband umhüllt die Erde - aus Gedankenlosigkeit (im wortgenauen Sinne), aus Angst vor Stille (horror vacui) und aus Gewinnsucht.

Wo immer möglich, muß sich der Sophos dem Dauergelaber entziehen, er meidet Talkshows und endlose Podiumsdiskussionen, die nicht der Sache dienen, sondern der ablenkenden Unterhaltung. Wer sich in der Geschichte umschaut, wird bald feststellen, daß die großen Geister, Philosophen, Soziologen, Schriftsteller, Dichter, Komponisten oder Maler ihr Werk stets in der Stille schufen, ja Stille und Einsamkeitsfähigkeit die Voraussetzung für kreatives Schaffen und Bilden sind. Auch die Kunst des Schweigens gehört hierher, ist "gelebte Phronesis", auch wenn der Weise dadurch den Anschein des Unwissenden, des Unzeitgemäßen oder Überheblichen erweckt. Mitten im Wortgeklingel einsam für sich bleiben zu können, stärkt sein Selbst, wenn es ihn auch zum Diskussionsverderber macht. Entschlossene Tätigkeit gibt ihm mehr existentielle Tiefe als die Teilhabe an Diskursen. Denn die postmodernen Jetzt-Euphoriker, die durch phonstarke Musik und Drogen, Sex und bildungsloses Ego-Gelaber ihren Selbstkult perpetuieren, haben weder Erdenschwere noch Bindungen an die Vergangenheit. Die "erfahrungslosen Erwarter" (Odo Marquard) der kollektiven Massenraserei kennen nur Kurzzeitbedürfnisse; in diesem Siegeszug des Situativen wird jede Stille getötet. Der Einzelne muß sich daher von den Vielschwätzern und Zeitdieben, von den Geistlosen und Denkfaulen, von den Unhöflichen, Vergnügungssüchtigen und Oberflächlichen absetzen und seiner Wege gehen, denn diese Protagonisten der Wegwerfgesellschaft leben "herkunftsvergessen und hinkunfts-blind". Was bedeutet dies?

Die Augenblickskulte wollen die "erfüllte Jetztzeit" anhalten, aber genau dies ist dem Menschen nicht möglich. Man kann weder die Zeit anhalten noch dauerhaft in glücklicher Erfüllung leben; so muß der Absturz unabwendbar erfolgen. Der ganze westliche Kulturkreis, der nur noch genießen und wenig arbeiten will, wird erleben, daß man Geld nicht essen und ohne den Horizont der Vergangenheit keine lange Zukunft dieser Völker erwartet werden kann. Tüchtigkeit allein genügt nicht. Wer Bleibendes hinterlassen will, muß einen Lebens- und Kulturstil entwickeln und pflegen; wer nur Berge von Abraum und Müllpyramiden hinterläßt, geht unter, wenn er nicht auf Kultur und Mythos so viel Wert legt wie auf den äußeren Erfolg. Goten und Vandalen hatten ebenso wie die Phönizier, Griechen und Römer nur relativ kurze Auftritte auf der Weltbühne. China aber hält bis heute, durch alle Systeme hindurch, an seiner vieltausendjährigen Geschichte und Kultur fest.

Dies sah auch Friedrich Nietzsche so, der aber will, daß die Bildungskraft nicht beim Nihilismus stehen bleibt, sondern er beschwört das "aufsteigende Leben", der Nihilismus soll durch neu setzende Werte überwunden werden, er will den höheren Menschen, den "Übermenschen". Einen "höheren Typus" visiert Nietzsche immer wieder an; so sagt er: "Euer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen!" Hans Carossa ergänzt dies, denn wir seien "Widerhall ewigen Halls!"

Es kommt also darauf an, in den jeweiligen Völkern und Kulturen persönlichkeitsstarke Menschen und Träger von Kulturwerten hervorzubringen, die diese mehr oder weniger zeitlosen Werte in die Zukunft zu transferieren vermögen. Ottmar Kliem kommt zu folgendem Befund: "Persönlichkeitsstarke Naturen sind überzeugt, daß sie die Ursachen für Erfolg oder Mißerfolg in sich selber zu suchen haben. Sie pflegen eine verantwortungsethische, unternehmerische Gesinnung, sind wißbegierig, setzen ihr Wissen in Handlungen um und fühlen sich selten psychisch und sozialkulturell entfremdet. Man nennt sie intern Kontrollüberzeugte, im Gegensatz zu persönlichkeitsschwachen Menschen, die das Schicksal, den Zufall, die Gesellschaft oder andere Menschen für ihre Erfolge oder Mißerfolge verantwortlich machen. Verhaltens-steuemd ist also der Überzeugungsbezug (intern oder extern)." Hinzu kommen noch unerschrockenes Denken und Wertbindung, also ein starker Glaube an einen Lebenssinn, verbunden mit Selbstbewußtheit im Können und Lösungsfreude im Handeln. Ihr Denkmotto lautet: Was immer kommen mag, ich werde es schon schaffen.

Das Individuum befiehlt sich dabei nur seine ihm eigenen und die von der Kultur vorgegebenen Ziele und bewirkt dadurch Einzigartigkeit, "Ausdifferenzierung, Gestaltung und Koordination seines eigentümlichen inneren Reichtums samt wechselseitiger Durchdringung der Sinne und des Geistes". Selbständiges Denken setzt ferner die Fähigkeit voraus, sein Denken auch methodisch zu kontrollieren. Diese Fähigkeit nennt man Disziplin. Selbstdisziplinierung des Denkens war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Überwindung der mittelalterlichen offenbarungsreligiösen Denkungsart. Erst mit der Disziplinierung des Denkens beginnt die Vernunft autonom zu werden. Ziel einer solchen Indivi-duation und des Differenzierungs-prozesses ist also der einmalige, unverwechselbare Mensch, als der man angelegt ist. Der Mensch soll zu einem kulturbezogenen Einzelwesen werden, abgelöst von den Maßstäben des Kollektivismus und der vermaßten Gesellschaft, abgelöst von Rollenerwartungen, von dem, was "man" denkt und anstrebt (Martin Heidegger). Ich-Selbst-Werden ist also immer auch ein Prozeß des Mündigwerdens, also die Erkenntnis der Schicksalhaftigkeit der jeweiligen Lebenssituation.

 

Jochen Schaare ist Lehrer und Autor von "Erziehung zur Autonomie. Pädagogik, Psychologie und Philosophie", Neuwied 1998, und "Von der Illusion zur Realität. Beiträge zu einer Philosophie der Aufklärung, des Realismus und der Lebenskunst", Neustadt 2003.

Philipp von Foltz, "Das Zeitalter des Perikles" (Gemälde von 1852): Die Idealvorstellung von der starken selbstbestimmten Persönlichkeit ist bereits um 450 v. Chr. in Griechenland entstanden.


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