© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/04 23. Juli / 30. Juli 2004

Nur ein Wertewandel führt aus der Kinderarmut
Demographie: Eine Studie aus Baden-Württemberg weist das Materielle nur als Nebenaspekt in der Tendenz zur Single-Gesellschaft aus
Kurt Zach

Schlappschwänze. So könnten die deutschen Männer demnächst im Ausland verspottet werden, fürchtet Johannes Singhammer. Selbst muß sich der CSU-Bundestagsabgeordnete diesen Schuh freilich nicht anziehen - er ist Vater von sechs Kindern und damit für deutsche Verhältnisse so etwas wie ein Exot. Die Republik vergreist, die Deutschen sterben aus - daß Deutschland mit seiner dauerhaft niedrigen Geburtenrate zu den Schlußlichtern unter den europäischen und westlichen Industriestaaten gehört, ist seit langem bekannt. Mit 8,7 Lebendgeborenen auf tausend Einwohner belegt Deutschland in einer vergleichenden Statistik der Weltbank für 190 Länder den Platz 185.

Nicht nur das Materielle ist Grund des Geburtenmangels

Daß der Geburtenschwund katastrophale Folgen für die sozialen Sicherungssysteme haben wird, wissen die Fachleute schon lange; den Politikern dämmert erst allmählich, daß sich dringend etwas ändern muß. Die Deutschen sollen wieder mehr Kinder bekommen - bloß wie soll man sie dazu bringen? Appelle an die nationale Moral à la Singhammer sind ebenso rar wie der Lebensentwurf des Großfamilienvaters. Üblicherweise kreisen die politischen Rezepte zur Abhilfe vom Geburtenmangel ums Materielle. Das trifft nicht den Kern, wie eine bemerkenswerte Studie aus dem Statistischen Landesamt Baden-Württemberg herausgearbeitet hat.

Der demographische Sonderweg Deutschlands besteht nicht in den niedrigen Geburtenraten an sich - die gibt es in anderen Industrieländern auch. Zweierlei unterscheidet die hiesige Situation von der in allen anderen europäischen Ländern: Nirgendwo sonst gibt es so viele Kinderlose und so wenige kinderreiche Familien mit drei und mehr Kindern wie bei uns. 26 Prozent der 1960 geborenen Frauen sind kinderlos geblieben; bei den Akademikerinnen sind es sogar 42 Prozent. "Polarisierung in der Entscheidung für oder gegen Kinder", nennen das die Autoren der Studie, die Soziologin Heike Lipinski und der Volkswirt Erich Stutzer: Entweder man entscheidet sich für Nachwuchs, dann aber gleich für zwei Kinder, oder man verzichtet ganz darauf. In anderen Ländern, dem ehemaligen Bambini-Paradies Italien zum Beispiel, gibt es dagegen noch immer viele Familien, nur geschrumpft: Die bequeme Ein-Kind-Familie ist zur Regel geworden.

Die Massenflucht aus der Familiengründung kann nicht allein materielle Ursachen haben. Ginge es nur um die finanzielle Belastung oder darum, den Anschluß im Beruf nicht zu verlieren - ein Einzelkind zumindest, das sich leichter in private wie öffentliche Betreuungsmodelle einfügt wie eine ganze Kinderschar, wäre damit allemal noch zu vereinbaren. Dem kategorischen "Nein" zu Kindern liegt hingegen in erster Linie eine Wertentscheidung zugrunde.

Der hessische CDU-Abgeordnete Armin Klein hat dies kürzlich in der Zeitung mit den großen Buchstaben auf den plakativen Punkt gebracht: "Die Selbstverwirklichung, die bei vielen zum Leben ohne Kinder geführt hat, ist in die Hose gegangen." Adenauers vielzitiertes Diktum "Kinder kriegen die Leute sowieso" hat bekanntlich bereits der Pillenknick widerlegt. Seither sinkt die durchschnittliche Kinderzahl je Frau kontinuierlich - von fast 2,5 auf dem Höhepunkt des "Babybooms" der Sechziger bis auf den heutigen Stand von 1,3. Die Schallgrenze für die "Bestandserhaltung" liegt bei 2,1. Mit anderen Worten: Seit Mitte der siebziger Jahre fehlt ein Drittel der Geburten.

Das Überraschende dabei: Der Kinderwunsch ist über all die Jahre konstant geblieben. Umfragen zufolge wünschen sich junge Deutsche auch heute im Schnitt 2,2 Kinder - mehr also als die statistische Reproduktionsrate. Einen "Skandal, der gleichwohl öffentlich eher beschwiegen wird", nennt die FAZ diese "enorme Lücke" zwischen Kinderwunsch und realisierter Geburtenzahl. Woran liegt's?

Lipinski und Stutzer nennen als ersten Grund den "Wertewandel in der pluralen Gesellschaft". Die Standardbiographie: Schule, Ausbildung, Heiraten, Kinderkriegen, Oma und Opa, Uroma und Uropa werden, bis daß der Tod uns scheidet, gibt es nicht mehr. Die klassische, auf die stabile Beziehung von Mann und Frau gegründete Familie ist eine Lebensform unter vielen geworden und keineswegs die gesellschaftlich am höchsten geachtete. Der Frankfurter Wissenschaftler Reimut Reiche spricht von einer "Homosexualisierung der Gesellschaft" als Folge des "Pillenknicks". Weil Lust und Zeugung nicht mehr untrennbar verbunden waren, sei das typische Sozialverhalten von Homosexuellen Allgemeingut geworden: Aus dem Lebenspartner wurde der "Lebensabschnittspartner", der jederzeit gewechselt werden kann, wenn Karriere und Selbstverwirklichung das nötig erscheinen lassen.

Modische Soziologenausdrücke wie "Patchwork-Familie" oder "Living apart-together" (letzteres meint Paare mit getrennten Haushalten) sind ein zweifelhafter Ersatz für den damit verbundenen Verlust an Sicherheit und Verläßlichkeit in den persönlichen Lebensverhältnissen. Gerade Frauen, so die Studie der baden-württembergischen Statistiker, sehen eine stabile Partnerschaft als Voraussetzung für die Mutterschaft. Dieser Wunsch wird durch eine Politik konterkariert, die Randgruppen und extravaganten Lebensformen höhere Aufmerksamkeit widmet als dem Schutz von Ehe und Familie. Die Konsequenz: Frauen verzichten lieber auf Kinder, als daß sie den Nachwuchs nicht in einer kompletten "traditionellen" Familie großwerden lassen. Der "Single-Boom" in Deutschland gehört damit zu den größten Feinden der Fortpflanzung. 36,7 Prozent der Gesamtbevölkerung und 11,4 Prozent der 25- bis 44jährigen leben heute in Einpersonenhaushalten; 1970 waren es 25,1 beziehungsweise 4,6 Prozent, bei den Erwachsenen im Elternalter also eine Zunahme um das Zweieinhalbfache. Blieben von den bis 1940 geborenen Frauen weniger als zehn Prozent unverheiratet, werden es bei den Geburtsjahrgängen ab 1960 voraussichtlich ein Viertel sein. Das deckt sich kaum zufällig ziemlich genau mit der Kinderlosenquote.

Je rarer Kinder werden, desto höher werden sie idealisiert

Die Ehe ist also nur noch eine Option unter vielen, und ebenso verhält es sich mit der Familiengründung. Kinder bekommt man eben nicht mehr "sowieso", man entscheidet sich ganz bewußt für sie. Und das heißt zugleich, daß man sich gegen andere Optionen entscheidet, die im öffentlichen Diskurs in der Regel einen ungleich höheren Stellenwert genießen. Uneingeschränkte individuelle Freiheit, Ausleben der als eigene Bedürfnisse empfundenen Antriebe, Spaß, Erlebnis, ewige Party, Reisen, wohin man will - das sind nur einige der Ansprüche, die heutzutage quasi Grundrechtscharakter besitzen. Wer sein Weltbild aus den Massenmedien bezieht, weiß nicht, daß "Selbstverwirklichung" im Immateriellen erheblich intensiver stattfinden kann: Zum Beispiel in der Verantwortung für die Erziehung und Charakterbildung eines kleinen Menschen.

Der zunehmende Verzicht auf Kinder, oft aus egoistischen Motiven, die steigenden Raten von - meist "sozial", sprich mit individuell motivierten Ansprüchen könnten den Schluß nahelegen, Kinder seien im Deutschland des 21. Jahrhunderts wenig wert. Der Eindruck täuscht: Zwischen öffentlicher Wahrnehmung und persönlicher Einstellung, zwischen den Wertesystemen der veröffentlichten und der privaten Meinung klafft ein beträchtlicher Graben. Je rarer Kinder werden, desto höher werden sie idealisiert, auf den Sockel gestellt und angebetet. Die Ansprüche werden entsprechend hochgeschraubt: An die Eltern, die mindestens perfekt sein müssen, aber auch an das Designer-Kind und seine Erziehung, die unter idealen materiellen und pädagogischen Bedingungen in eine sorgenfreie Zukunft führen soll. Dem Schreiber dieser Zeilen erklärte ein guter Bekannter vor Jahren, "bevor ich nicht wenigstens hunderttausend Mark im Jahr verdiene, brauche ich an Kinder doch gar nicht erst zu denken". Unter dieser Maxime wäre ein Großteil der Bevölkerung von der Fortpflanzung überhaupt ausgeschlossen. Einwanderern aus anderen Kontinenten (die in Asien gelegene Türkei eingeschlossen), die - so wie weiland auch unsere Landsleute - ihre Kinder eben "einfach bekommen", plagen solche Bedenken offenbar weit weniger als die Angehörigen des Staatsvolks, die oft genug vor den idealisierten und hochgeschraubten Ansprüchen kapitulieren. Bevor sie dem Kind zumuten, unter nicht so idealen Verhältnissen aufzuwachsen, verzichten die verunsicherten Eltern in spe lieber ganz darauf. Schade - sonst hätten sie vielleicht gemerkt, daß Kieselstein und Schlammpfütze dem Kinderglück oft näher kommen als Designerspielzeug und Edelkindersuite. Die "hohe Wertschätzung von Kindern", notieren Lipinski und Stutzer, ist so paradoxerweise zu einer weiteren wichtigen Ursache von Kinderlosigkeit geworden.

"Doppelsozialisation" Familie und Beruf ist nur Teilaspekt

Weit hinten erst in der Rangliste der Gründe für die notorische Kinderlosigkeit der Deutschen rangieren die Ursachen, die hierzulande quer durch die Parteien die Diskussion um mögliche Gegenmaßnahmen bestimmen: Die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die ökonomische Not von Familien.

Es sind Teilaspekte, die indes in der Regel nicht allein den Ausschlag geben, wenn der Fortpflanzungswunsch aufs Abstellgleis geschoben und abgehakt wird. Zwar ist unstrittig, daß die Selbstverwirklichung per beruflicher Karriere den Frauen eine Sonderlast aufbürdet: Die "Doppelsozialisation" mit Familie und Beruf als erstrebenswerten, aber meist schwer zu vereinbarenden Lebenszielen, führt dazu, daß die Realisierung des Kinderwunsches erst hinausgeschoben wird, um nach langer Ausbildung erst einmal im Beruf Fuß zu fassen, und später oft ganz entfällt. Allgemeingut ist auch die Auffassung von Ex-Caritas-Präsident Hellmut Puschmann, es gebe "viele Methoden, sich dauerhaft zu ruinieren. Eine der erfolgversprechendsten in Deutschland ist die Gründung einer mehrköpfigen Familie." So weit, so wahr. Doch liegen deutsche Familienpolitiker richtig, wenn sie in "besseren Betreuungsangeboten" (Variante "links") oder in mehr Staatsknete für Familien (Variante "bürgerlich") das Patentrezept zur Förderung der Geburtenfreudigkeit sehen?

59 Milliarden Euro werden in Deutschland jährlich insgesamt für Familien ausgegeben - im Vergleich mit anderen Industriestaaten ein Spitzenwert. Nicht genug, oder falsch ausgegeben? Vergangenen Dezember befragte NFO Infratest für den Spiegel mehrere hundert Eltern minderjähriger Kinder, ob sie mehr Nachwuchs hätten, wenn das Betreuungsangebot in Deutschland besser wäre oder wenn sie steuerlich deutlich entlastet würden. Beide Male antworteten drei Viertel der Befragten: Nein, das wäre egal.

Der europäische Vergleich mit Ländern, denen eine deutliche Steigerung der Geburtenraten gelungen ist, scheint zunächst dennoch für Betreuung und Transfers zu sprechen. In Skandinavien, wissen die Statistiker, gibt es flächendeckend Betreuungsplätze auch für Kinder unter drei Jahren und Ganztagsschulen. Ebenso in Frankreich, wo kinderreiche Familien von deutlich großzügigeren Transferleistungen als in Deutschland profitieren. Eine vierköpfige deutsche Familie mit einem Durchschnittseinkommen von 30.000 Euro muß heute mit weniger Einkommen zurechtkommen, als das Steuerrecht als Existenzminimum vorsieht. Dagegen zahlt ein französischer Durchschnittsverdiener mit drei Kindern dank Familiensplitting überhaupt keine Einkommenssteuer mehr. Wer Vergleichbares in Deutschland ausprobieren will, muß freilich mehr Geld in die Hand nehmen als ab und an ein paar dutzend Euro Zuschlag aufs Kindergeld. Er muß vor allem die ungenierte Ausplünderung von Familien beenden, die vom umlagefinanzierten Rentensystem und von einem Steuersystem, das vor allem auf indirekten Steuern beruht, unverhältnismäßig belastet werden.

Dafür ist nicht mehr und nicht weniger als ein neuerlicher Wertewandel notwendig. Die Konzentration auf die rein materiellen Aspekte von Elternschaft und Familiengründung führt in die Irre. Die Diskussion muß auf eine grundsätzliche Ebene gehoben werden. Die Sicherheit, in der Kinder und Familien gedeihen können, ist nicht nur eine Frage der materiellen Absicherung. Nötig ist dafür nicht so sehr eine rundumversorgende staatliche Fürsorge als vielmehr ein verbindliches Wertesystem, das dem Mängelwesen Mensch als Richtschnur im Chaos der modernen Welt dienen kann. Eine "Familienpolitik", die sich rein quantitativ an der Steigerung von Transferzahlungen und Hortplätzen mißt, kann dieses Ziel nicht erreichen. Familienpolitik ist keine Angelegenheit von isolierten, einzelnen Haushaltsposten; sie ist eingebettet in die Gesamtpolitik einer Regierung mit ihren Maßstäben und Prioritätensetzungen. Ändert sich hier nichts, dann dürfte in der Tat demnächst der "letzte Deutsche" geboren werden.

Heike Lipinski/Erich Stutzer: "Wollen die Deutschen keine Kinder? Sechs Gründe für die anhaltend niedrigen Geburtenraten", in: Statistisches Monatsheft, Baden-Württemberg 6/2004


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