© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

Weshalb die Reformen scheitern
von Friedrich Romig

In Deutschland ist die Agenda 2010 gescheitert, bevor sie noch richtig auf den Weg gebracht wurde. Die eigene Partei folgte ihrem Vorsitzenden nicht mehr. In Frankreich hat die Politik Raffarins bei den Regionalwahlen eine empfindliche Schlappe einstecken müssen. In Italien stößt die Politik Berlusconis auf immer größeren Widerstand der Gewerkschaften, die Protest- und Streikbereitschaft nimmt rapide zu. In Österreich verlieren die Regierungsparteien eine Wahl nach der anderen, die Stimmenanteile von Rot-Grün nehmen empfindlich ab, die letzten Ar-beiterkammerwahlen zeigten, daß die Reformpolitik nirgends ankommt. Die Reformen können nicht mehr durchgesetzt werden, den Zukunftsversprechen wird nicht mehr geglaubt, die ewige Leier von "mehr Bildung, Forschung und Innovation" verwechselt im Ansatz Quantität mit Qualität.

Das Fatale ist, daß die Opposition, käme sie an die Regierung, den Zug der Reformen auf den gleichen, festverlegten Geleisen nur noch schneller in die Krise fahren würde, denn sie kennt keine Alternativen. Mit den bisherigen Konzepten: immer weiterer Abbau des Staates, "Deregulierungen", Privatisierungen, Kürzung der Staatsausgaben und der Sozialleistungen, "Flexibilisierung" der Arbeitsverhältnisse, Aufweichung der Kollektivverträge, Verlängerung der Arbeitszeit und Lohndrückerei, ist den ins Auge stechenden Problemen bei Arbeitslosigkeit, Renten und Krankenkassen nicht beizukommen.

Die Fixierung aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Staates auf die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit funktioniert nicht in einer "globali-sierten" Welt, einem "gemeinsamen Markt", einer "freien" Wirtschaft "ohne Grenzen". Herabsetzung der Löhne samt sozialen Lasten um ein paar Prozente nützt nichts, wenn in den EU-Beitrittsländern oder gar in China und den "Tigerstaaten" für die gleiche Arbeit nur 10 oder 20 Prozent gezahlt wird. Wer glaubt, mit mehr Bildung oder "gleichen Bildungschancen für alle" das Beschäftigungsproblem lösen zu können, täuscht sich ebenfalls.

In Bildungsumfang, Bildungshöhe und -tiefe, Lerneifer und Disziplin stehen uns viele aufstrebende Länder um nichts nach. Ihr Auslesesystem ist, während wir noch über Elitehochschulen diskutieren, um vieles rigoroser und effizienter. Schon von den kulturellen Traditionen her bringen viele Asiaten bessere Voraussetzungen für die heutigen modernen Mikro- und Nano-technologien mit als die Europäer. Die Kunststoff-Forschung und -ent-wicklung, einst Zierde der deutschen Chemie, ist heute in Japan zu Hause. Von dort bezieht die deutsche Petrochemie jetzt ihre Lizenzen. Auch Forschung schafft automatisch keine neuen Arbeitsplätze im Inland, außer für ein paar Forscher. Forschungsergebnisse werden heute mit Lichtgeschwindigkeit in alle Weltgegenden übertragen und können dort angewendet werden, wo das die geringsten Kosten verursacht.

Das Argument der "Wettbewerbsfähigkeit" bei den Sozialkürzungen funktioniert nicht, wenn in Thailand oder in China nur zehn oder zwanzig Prozent unserer Löhne gezahlt werden. Auch Forschungsresultate werden transferiert.

Die Übernahme der Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung durch den Staat bedeutet vielfach nur, daß die Industrie es versteht, "private Unternehmenskosten in öffentliche soziale Kosten zu verwandeln". Der unter der Ausgabenlast stöhnende Staat sieht diesem Treiben hilflos zu oder unterstützt es womöglich noch. Ihm wurden die Mittel der Wirtschaftspolitik aus der Hand genommen, er kann daher auch keine Politik mehr machen, er simuliert sie nur noch. Moralische Appelle an die Industrie, doch Arbeitsplätze im Inland zu schaffen, anstatt sie in die Beitrittsländer zu verlegen, sind genauso vergeblich wie alle Opfer, die von der arbeitenden Bevölkerung oder den Rentnern verlangt werden. Politik besteht, so der Eindruck, nur mehr im "muddling through" auf neudeutsch, also im Durchwursteln von Wahl zu Wahl. Doch Wähler und Gewerkschaften lassen sich von Mal zu Mal immer weniger an der Nase herumführen. Die Protestbewegungen werden europaweit immer radikaler, jetzt gehen schon Millionen auf die Straße. Bundeskanzler werden von ihren eigenen Parteigenossen ausgepfiffen, Minister mit faulen Eiern beworfen, alle demokratischen Parteien haben ihren Kredit verspielt. Ihre Politik ist unglaubwürdig geworden, ihren Versprechungen wird mißtraut, ihre Lösungskompetenz bestritten, ihre Lügen werden durchschaut. Politiker stehen am Pranger. Und das mit Recht, haben sie doch die primitivsten "Elemente der Staatskunst", die einem Adam Müller Anfang des 19. Jahrhunderts noch selbstverständlich waren, vergessen oder vielleicht auch nie begriffen.

Zu diesen Elementen gehört an vorderster Stelle die Einsicht, daß sich der Staat "produzieren" muß, das heißt, seine Schutzfunktion für Leben und Existenz seiner Bürger zu erfüllen hat. Denn warum sollte der Bürger den Staat bejahen, wenn der Staat die Existenz seiner Bürger und mithin die Arbeitsplätze, die ihre Existenzgrundlage bilden, nicht schützt und sichert? Wenn der Staat alle Grenzen aufhebt, also freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen mit dem Ausland zuläßt, hört er auf, sich zu produzieren und seine Schutzfunktion zu erfüllen. Was dann passiert, erleben wir jetzt: Kapitalflucht setzt ein, Investitionen werden im Ausland getätigt statt im Inland, Arbeitsplätze "verlagert", Maschinen verrotten in Industriefriedhöfen oder werden abmontiert und in billige Entwicklungsländer "transferiert". Ganze Industrie- und Handwerkszweige verschwinden und mit ihnen das Vor-, Seiten- und Nachgewerbe. Bauernhöfe werden aufgelassen, Dörfer veröden, Land liegt brach, und dafür werden sogar noch Stillegungsprämien bezahlt. Importe sind ja so "billig", und wir müssen doch den Markt für die Entwicklungsländer "öffnen". Adam Müller bringt mit seinem genialen Durchblick die ganze Misere des Staatsabbaues auf den Punkt: "Sobald der Staat aufhört sich zu produzieren, hören alle die kleineren Produktionen (der bürgerlichen Gesellschaft) von selbst auf." Was bei uns seit Jahren betrieben wird, ist Staatsabbau, systematische Staatsauflösung. Und dann wundern wir uns, wenn die Wirtschaft stagniert und die Reformen nicht greifen wollen!

Wo also ansetzen? Der Beginn muß wohl damit gemacht werden, daß wir den Staat wieder schätzen, ihn als "nationale Produktivkraft" begreifen lernen. Er gibt nicht bloß dem ganzen Gesellschafts- und Wirtschaftskörper seine Form, sondern er ist als "nationale Produktivkraft" gewissermaßen das schöpferische "Kapital höherer Ordnung", ohne welches jede unternehmerische Tätigkeit gelähmt und versanden würde. Nur der Staat hat die "nationale Kraft", alle Einzelpläne auf ein einziges Ziel auszurichten, die Erhöhung des Wohlstands der Nation, schreibt der berühmte französische Nationalökonom François Perroux. Im Staat bündelt sich das gesamte "Nationalkapital", aus dem das Kapital der einzelnen Unternehmungen und der Individuen hervorsprießt wie die Blumen auf einer Wiese. Ohne dieses nationale "Kapital höherer Ordnung" gäbe es nur Dürre. Es besteht, wie der Nobelpreisträger Gunnar Myrdal nicht müde wird zu erläutern, im kulturellen Erbbesitz ("cultural inheritance") einer Nation, einem Besitz, der niemanden ausschließt, allen gehört, den alle nutzen können. Es ist dem Handel entzogen und nur als Kombination und nicht stückweise wirksam und bewertbar. Zu ihm, diesem kulturellen Erbbesitz an Nationalkapital, zählen nach Myrdal so unterschiedliche, integrative und produktive Wirkungen entfaltende Voraussetzungen jeder Wirtschaftstätigkeit wie ein wohlausgebildetes Gerichtswesen, eine gute Zivilverwaltung, eine hohe Allgemeinbildung, die Art der Religion, ein geordnetes Geld-, Währungs- und Kreditwesen, die sinnvolle Regulation der Wirtschaftstätigkeit, der organisierte, Klassenkampf vermeidende und den sozialen Frieden erhaltende Interessenausgleich durch die Wirtschaftsverbände und überhaupt alles, was an sozialen Kräften und geistigen Gütern fruchtbar gemacht werden kann.

Friedrich List ist einer der ganz großen deutschen Nationalökonomen, die lange schon vor Myrdal genau erfaßt haben, worauf es dem wahren Staatsmann eigentlich ankommen sollte, nämlich auf die Förderung der "produktiven Kräfte": "Ihm (dem Staatsmann) ist es nicht um die Anhäufung wertvoller Gegenstände in den Händen der Individuen zu tun als vielmehr um die Anhäufung derjenigen Kräfte und Einrichtungen, wodurch die Wohlfahrt der ganzen Nation hervorgebracht und garantiert wird. Es mag ihm gut sein zu wissen, auf welche Weise Arbeit, Kapital und Naturkraft sich vereinigen, um sich in den Händen der Individuen zu wertvollen Produkten zu gestalten. Da er aber wahrgenommen hat, daß die wertvollen Produkte in einer ganzen Nation um so häufiger sind, je mehr Intelligenz, Religiosität, Moralität unter ihren Gliedern herrschend geworden, je weiter Wissenschaften und Künste, Gewerbe und Erfindungen im allgemeinen vorangeschritten, je mehr sich von diesen allgemeinen Errungenschaften der Menschheit die einzelne Nation zu eigen gemacht hat und je vollkommener die bürgerlichen, ökonomischen und politischen Einrichtungen sind, so schließt er daraus, dies seien die Kräfte, wodurch jener Produktionsprozeß in der ganzen Nation befördert werde, und er sucht daher vor allen Dingen auf die Vermehrung dieser Kräfte zu wirken." Lists "Theorie der produktiven Kräfte", die er ganz bewußt der katallaktischen, auf Gütertausch beruhenden "Theorie der Werte" von Adam Smith gegenüberstellte, verlangt vom Staatsmann, sich auf die Hervor-bringung dieser geistigen Produktivkräfte zu konzentrieren, denn damit produziert er das Kapital der Nation auf "idealische Weise". Heute nennt man das "nation building": Nachdem man (durch Aggressionskriege) das Chaos angerichtet und die Ordnung zerstört hat, ist Staatsaufbau und Wiederherstellung der Ordnung als Voraussetzung für die Erholung des Landes angesagt.

Warum sollte der Bürger den Staat bejahen, wenn
dieser nicht in der Lage ist, genügend Existenzmöglich-keiten zu schaffen? Soziale Mißstände führen immer zu politischen Unruhen und Radikalisierung.

Rechtsstaatlichkeit, Demokratisierung und Funktionieren der Staatsverwaltung ist allerdings nicht genug. Der Staatsmann soll, so lehrte List, ganz von dem Gedanken durchdrungen sein, daß "alle Zweige der Wirtschaft einer großen Nation ein zusammenhängendes Ganzes bilden, welchem kein einzelner Teil entnommen werden kann, ohne daß dadurch die anderen empfindlich verletzt würden". Für diesen notwendigen staatsmännischen "Blick auf das Ganze" bringt List ein drastisches und zugleich jede Freihandelsforderung widerlegendes Beispiel: "Wollte heute England sich anheischig machen, den Deutschen jahrelang alle ihre Bedürfnisse an Manufakturwaren umsonst zu liefern, wir könnten nicht dazu raten, dieses Offert anzunehmen, .... (denn) es würde einer der wichtigsten und ältesten Manufakturzweige Deutschlands zugrunde gehen - es ist, als falle ein Glied von dem Körper der deutschen Nation ... Wer aber möchte über den Verlust eines Armes sich damit trösten, er habe doch seine Hemden (in England oder in Hongkong) um 40 Prozent wohlfeiler gekauft"? John Maynard Keynes, der wohl berühmteste Nationalökonom des 20. Jahrhunderts, "sympathisiert eher mit denjenigen, die die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Staaten minimieren möchten (...). Waren sollten aus heimischer Produktion stammen (...), und vor allem sollten hauptsächlich Gelder aus dem eigenen Land verwendet werden".

Die Wirtschaft einer Nation wieder als ein Ganzes zu begreifen, dessen Glieder voneinander abhängig sind, sich gegenseitig ergänzen und schöpferisch befruchten, um dem Gemeinwohl des ganzen Volkes zu dienen, dies erfordert ein völliges Umdenken bei dem eingeschlagenen Weg. Die manische Fixierung auf Wettbewerb, Globalisierung, gemeinsamen Markt muß wieder dem Blick auf die Ausbildung des nationalen Wirtschaftskörpers, auf die weitestmöglich Selbstversorgung ("Autarkie") und auf die Indienststellung aller Lei-stungspotentiale weichen. Arbeitslosigkeit ist Versagen der Politik. Die Parole muß heißen: Zusammenarbeit statt Wettbewerb! Jetzt gilt es, das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft, also das, was einst die "konzertierte Aktion" bezweckte, wieder auf die Füße zu stellen. Die Verbände der Wirtschaft, einschließlich der Kammern und Kartelle (!), sind zu stärken, die Konkurrenz aus dem Ausland und auch das gegenseitige Niederkonkurrenzieren im Inland ist zurückzudrängen. Was sich nach außen öffnen will, muß sich nach innen schließen. Dem Interessenausgleich der Verbände untereinander ist zwecks Förderung der Selbstverwaltung der Wirtschaft Raum zu geben. Den Gewerkschaften ist die konstruktive Mitarbeit zu ermöglichen. Und der Staat muß über allem wieder als der große und starke Hüter des Gemeinwohls thronen, verantwortlich für die Wahrnehmung der nationalen Interessen nach innen und außen.

Diese Bejahung der eigenen Nation erfordert eine klare Absage an alle Institutionen, die als WTO, IMF, IWF, EU den Staat kujonieren, sich an seine Stelle setzen wollen und ihn mit Hilfe ihrer Regelungen zugrunde richten. Sie verstoßen gegen die elementarste Einsicht der Staatskunst, daß der Staat Grenzen braucht, weil er sonst seine Grundfunktion als Diener des Volkes nicht ausüben und die Existenz der Nation nicht sichern kann. Ein Staat ohne Grenzen ist wie ein Körper ohne Haut: Er rinnt aus, wird amorph und verschwindet. Erst wenn das Grundrecht der Nation auf Existenz durch den Staat innerhalb seiner Grenzen anerkannt, durchgesetzt und gesichert ist, können sinnvolle Reformen angegangen werden und greifen. Sonst verpuffen sie im Vakuum.

 

Dr. Friedrich Romig war Planungsdirektor eines Chemiekonzerns in Österreich. Er ist Universitätsdozent und Verfasser der "Theorie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit", erschienen im Verlag Duncker und Humblodt, Berlin.

 

Foto: Stuhlbauermeister Bormann in seiner Werkstatt im sächsischen Rabenau. Der Familienbetrieb besteht seit 1665, Der Wert von Produkten läßt sich nicht nur am Profit ermessen, der damit kurzfristig zu erringen oder an der Börse vorzuspiegeln ist.


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