© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

Im Sultanspalast unerwünscht
Türkei: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt Kopftuchverbot / Kampf zwischen Laizisten und Islamisten / Auswirkungen auf Deutschland
Alexander Griesbach

Ende Juni hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten grundsätzlich für zulässig erklärt. Die sieben Straßburger Richter stellten fest, daß diese Regelung weder einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Religions- und Meinungsfreiheit noch eine "Diskriminierung" darstellt.

Die Klagen zweier türkischer Medizinstudentinnen, die von Vorlesungen und Prüfungen ausgeschlossen worden waren, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch abzulegen, wurde damit abgewiesen. Die diesbezüglichen Initiativen der beiden 29 und 31 Jahre alten Frauen in der Türkei scheiterten, weil die dortigen Gerichte geltend machten, daß das Tragen religiöser Symbole an öffentlichen Einrichtungen gegen die in der Verfassung verankerte Laizität, sprich der Trennung von Staat und Religion, verstoße. Der Straßburger Gerichtshof schloß sich dieser Sicht weitgehend an.

Das Kopftuchverbot sei aufgrund zweier Prinzipien rechtens: einmal aufgrund des "Grundsatzes der Laizität" und zum anderen aufgrund des "Gleichheitsgebotes". Dabei verwiesen die Richter auch darauf, daß das Kopftuch in den letzten Jahren "politische Bedeutung" erhalten habe. Dies ist eine deutliche Anspielung auf jene "extremistischen politischen Bewegungen", die der Türkei eine Gesellschaft aufzwingen wollen, die auf religiösen Regeln basiert. Vor diesem Hintergrund sei das Kopftuchverbot in bestimmten öffentlichen Einrichtungen auch als Präventivmaßnahme bzw. als "dringende soziale Notwendigkeit" zu bewerten.

Das Straßburger Urteil bringt die Regierung von Recep Tayyip Erdogan in Verlegenheit - seine islamistische Regierungspartei AKP hatte ihrer Klientel mehr "Kopftuch-Freiheit" versprochen. Welch skurrile Formen die Kopftuchfrage annehmen kann, zeigt das Beispiel der Ehefrau von Erdogan: Als Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer während des jüngsten Nato-Gipfels einen Empfang im früheren Sultanspalast Dolmabahce gab, mußte Emine Erdogan zu Hause bleiben. Der Laizist Sezer - einst Vorsitzender des türkischen Verfassungsgerichtshofes - war nämlich der Auffassung, daß die Frau des Premiers wegen ihres Kopftuches nicht "salonfähig" sei.

Daß der Kopftuch-Streit nicht eine Frage individueller Glaubensäußerung, sondern von grundsätzlicher Natur ist, zeigt die sich verschärfende Auseinandersetzung zwischen den Lagern einer "islamisch-osmanischen" und der "modernen westlichen" Zivilisation in der Türkei. Die Kopftuchträgerinnen - über zwei Drittel der türkischen Frauen - kommen in der Regel aus Anatolien oder entstammen der armen Peripherie der Metropolen.

Die Aktivistinnen wollen aber mehr: Mit dem Kopftuch demonstrieren sie - auch dies dürfte im Westen befremdlich klingen -, daß sie selbstbewußt und vor allem "politisiert" sind. Unterstützung fanden sie früher bei der - inzwischen verbotenen - islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) von Ex-Premier Necmettin Erbakan. Mittlerweile ist Erbakans Ex-Parteifreund Erdogan Premier und betreibt eine geschicktere, "schleichende" Islamisierung.

Nicht zuletzt am Ausgang der Auseinandersetzung um das vor sieben Jahrzehnten unter Kemal Atatürk eingeführte Kopftuchverbot im Staatsdienst und Bildungsbereich wird sich zeigen, ob und inwieweit die Türkei als "EU-reif" betrachtet werden kann. Vor diesem Hintergrund kann das Straßburger Urteil auch als Stärkung der Parteigänger einer "westlichen modernen" Türkei gelesen werden. Seine Signalwirkung in Richtung EU dürfte es nicht verfehlen. Denn unausgesprochen schwingt in diesem Urteil die Botschaft mit, daß der Weg der Türkei in Richtung Moderne irreversibel wird, wenn sie erst Mitglied in der EU ist.

Wie stark die westlich-europäische Gesinnung in Wahrheit bei den derzeit herrschenden "gemäßigten" Islamisten ist, zeigte auch ein anderes Detail: Die kopftuchtragende Frau des als EU-orientiert geltenden AKP-Außenministers Abdullah Gül hatte in Straßburg ebenfalls eine Klage wegen Verletzung ihrer Religionsfreiheit eingereicht. Bezeichnenderweise hatte Hayrünisa Gül diese jedoch Anfang des Jahres wieder zurückgezogen - ihr prominentes Scheitern wäre Wasser auf die Mühlen der Gegner eines EU-Beitritts der Türkei gewesen.

Einige Tage vor dem Straßburger Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die jahrelange Klagegeschichte der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin auf Einstellung in den Schuldienst Baden-Württembergs beendet. Die 1995 in Deutschland eingebürgerte Afghanin wollte durchsetzen, aus "Glaubensgründen" mit Kopftuch unterrichten zu dürfen. Die schwarz-gelbe Landesregierung in Stuttgart hatte Anfang April dieses Jahres ein Kopftuchverbot im Schulgesetz festgeschrieben. Nach Auffassung der Leipziger Richter entspricht das geänderte Gesetz den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes, das 2003 das Kopftuchverbot zwar für zulässig erklärte, als Grundlage aber entsprechende Gesetze der jeweiligen Bundesländer gefordert hat.

Allerdings mußte der Prozeßvertreter Baden-Württembergs, Ferdinand Kirchhof, nach dem Leipziger Urteil einräumen, daß es "regionale Ausnahmen" für Kopftuchträgerinnen geben könne. In einer Stadt mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil - wie etwa Berlin oder Stuttgart ­- könne die Prognose, ob das Kopftuch einer Lehrerin den "Schulfrieden" störe, anders ausfallen als im katholischen Schwarzwald.

Ali Kizilkaya, Chef des Islamrates in Deutschland, sieht sogar die "Gleichbehandlung der Religionen" verletzt und sprach von einem "Berufsverbot". Kopftuch-Aktivisten wie Kizilkaya könnte das Straßburger Urteil sogar indirekt zupaß kommen. Dieses Urteil wurde ausdrücklich mit den Prinzipien "Gleichbehandlung" und "Laizität" begründet.

Sollen in Deutschland auch in Zukunft kopftuchtragende Lehrerinnen vom Unterricht ausgeschlossen bleiben, wird sich wohl Deutschland zu einem "laizistischen" Staat erklären müssen - und sich so vom "christlich-abendländischen Erbe" im "öffentlichen Raum" verabschieden - auch das ist eine mögliche Konsequenz des Straßburger Urteils.

Foto: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner Frau Emine: Der Türkei eine Gesellschaft nach islamistischen Regeln aufzwingen


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