© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/04 02. Juli 2004

Der erste deutsche Stilist
Zwischen Frühsozialismus und Spiritualismus: Zur Erinnerung an den Romantik-Philosophen Adam Müller
Wolfgang Saur

Fernab der geistigen Trampelpfade geben Adam Müllers 175.Todestag und 225. Geburtstag Anlaß, an den Meisterdenker der Goethezeit, das Haupt der politischen Romantik zu erinnern. Müller gehört zu jener ersten modernen Intellektuellengeneration, die in eine Epoche eintritt, deren strukturelle Probleme noch uns beschäftigen.

Adam Heinrich Müller wurde 1779 in Berlin als Sohn eines hohen Finanzbeamten geboren. Früh schon begann die lebenslange Freundschaft mit Friedrich Gentz, der 1793 Burkes "Betrachtungen über die Französische Revolution" übersetzte und zum Mitarbeiter Metternichs wurde. Müller darf als wichtigster Nachfolger Burkes in Deutschland gelten; von ihm übernahm er die Werte der historischen Kontinuität, Institutionen und evolutionärer Reform, überhaupt das Prinzip des "positiven Rechts" entgegen den naturrechtlichen Konstruktionen.

Nach theologischen Anfängen studierte Müller Recht und Staatswissenschaften in Göttingen und arbeitete dann an der kurmärkischen Kammer bis 1803. Er bereiste Schweden und Dänemark und folgte einem Freund nach Schlesien, wo seine Erstlingsschrift, "Die Lehre vom Gegensatz" (1804), entstand. Müller entwickelt in ihr die Embryonalform seiner Dialektik. Im "'Antigegensatz' des Gegensatzes" deutet sich bereits der spekulative Durchbruch zu einer ideellen Synthesis höherer Ordnung an. Diese Intuition bekräftigte der junge Autor im April 1805 mit seiner Konversion zum katholischen Glauben. Der universale Anspruch des göttlichen Worts als transnationale Ordnung in Kirche und Kaisertum prägte fortan sein Denken.

Er demontierte die Aura des legendären Preußenkönigs

Als Hofmeister der schlesischen Familie Haza kam Müller nach Dresden, um dort 1806 mit Vorlesungen ("Über die deutsche Wissenschaft und Literatur") erstmals hervorzutreten. Allein dieser Schrift wegen verdiente er Klassikerrang. Müllers Deutsch ist makellos, er schreibt klar und schlank, transparent und bestimmt, zugleich gedanklich tiefgründig und komplex. Das zeigen die zahlreichen Themen, die er mühelos verschmilzt und unterirdisch miteinander verknüpft. Erst im polyphonen Zusammenklang seiner aspektreichen Betrachtung erschließt sich ihm deutscher Geist. Dieser gründet in den Prinzipien der Vermittlung, Universalität, Toleranz und Unendlichkeit. "Der Geist von Müllers wundervollen Vorlesungen", so E. R. Curtius, "ist durch seine Weite und Allseitigkeit, durch geschichtliche und ästhetische Verständnistiefe, seine zarte Transparenz und formsichere Abgewogenheit, seinen sittlichen Takt und sein christliches Gefühl, durch seine Harmonie endlich als Darstellung deutschen Wesens" selbst Fichtes "Reden an die deutsche Nation" überlegen.

Müllers Gespür erkannte in Dresden Heinrich von Kleists künstlerisches Ingenium. So veröffentlichte er 1807 dessen "Amphitryon": Beginn einer Freundschaft, die 1808 zur gemeinsamen Literaturzeitschrift Phöbus führte. Höhepunkt der öffentlichen Wirkung Müllers wurden jedoch (Winter 1808/09) seine Vorlesungen "Über das Ganze der Staatswissenschaft", noch im gleichen Jahr als "Elemente der Staatskunst" publiziert. Sie haben Müllers Nachruhm begründet.

In Berlin rechnete Müller 1810 mit "Friedrich II. und der preußischen Monarchie" ab. Er demontierte die Aura des legendären Königs und unterwarf dessen rationale "Staatsmaschine" mit ihrer "mechanischen Disziplin" romantischer Skepsis. Der Staat sei ein "Makroanthropos", eine überpersönliche Individualität, kein "Instrument in der Hand einer Person, eines Friedrichs, sondern er ist eine Person selbst, ein freies, in sich durch unendliche Wechselwirkungen streitender und sich versöhnender Ideen bestehendes und wachsendes Ganzes". Die zentralistische Autokratie wirke gemeinschaftsschwächend und vereinzelnd, 1806 sei die Quittung dafür. Zudem führe der entfesselte ökonomische Wettbewerb in den Untergang; nicht die "Fehler der Kommandierenden", das Land sei "eben so sehr durch wetteifernde Privatbegierden seiner Bürger als durch den Feind verwüstet worden".

Zu den patriotischen Initiativen dieser Jahre zählte die prominente "Christlich-deutsche Tischgesellschaft", die Müller und Arnim 1810 zu Berlin ins Leben riefen. Dem elitären Männerbund gehörte auch Kleist an, der seit Oktober die Berliner Abendblätter herausgab, von wo aus Müller nun seine Angriffe gegen die Regierungspolitik startete. Für Müller, Gegner Adam Smiths und des liberalen Markts, führten die Reformprojekte in die falsche Richtung. Als er der preußischen Regierung lästig wurde, schob ihn Hardenberg 1811 nach Wien ab.

1812 hielt Müller dort seine "12 Reden über die Beredsamkeit", in denen sich seine literarische Gestaltungskraft vollendet. Unter dem Aspekt öffentlicher Sprachkultur will der Autor eine Ursache aktueller politischer Ohnmacht zur Diskussion stellen. Der deutsche Bruch zwischen reicher Gedankenwelt und äußerer Wirksamkeit verhindert urbane Verständlichkeit ebenso wie gemeinschaftliches Handeln. Nationale Verfassung und Sprache spiegeln das Dilemma wechselseitig. Müller selbst dagegen zeigt sich in diesen Reden als erster deutscher Stilist, dessen "exakte" Phantasie klassische Prosa produziert - ein weltliterarisches Sprachdenkmal.

1813 wurde Müller in den Tiroler Freiheitskampf verwickelt, 1814 machte er den Pariser Feldzug mit und ging nach dem Krieg als österreichischer Generalkonsul nach Leipzig. In diese Zeit fallen seine Spätschriften über die Notwendigkeit eines theologischen Fundaments für Wissenschaft und Gesellschaft. Obwohl Müller mit Schlegel und Görres zur spätromantischen Restauration gezählt wird, bestand genügend Dissens zur Metternichschen Realpolitik. 1826 nach Wien zurückgekehrt, verstarb er schon 1829 mit 50 Jahren.

Erst das göttliche Licht macht die Menschen zu Brüdern

Typisch für Romantik und den Konservatismus überhaupt ist Müllers integrale Denkform und vielseitiges Interesse, die Verschmelzung ästhetisch-politisch-religiöser Perspektiven in eine Anschauung: "Meine Ansicht der Welt ist eine ganze und vollständige."

Gleichwohl läßt sich in den "Elementen der Staatskunst" Müllers Hauptwerk ausmachen: keine Lehre des Politischen im engen Sinn, vielmehr eine großangelegte und systematisch durchgeführte Sozialphilosophie samt Wirtschafts- und Rechtstheorie, historischen Exkursen - ein reich gegliedertes, ausgewogenes, auf die Religion zustrebendes System.

Leitfaden bildet die fundamentale Unterscheidung zwischen Idee und Begriff. Ideen sind lebendige Wesenheiten, produktive Totalitäten, in sich gegliedert, nicht starr und formell wie Begriffe, die scheiden, statt zu verbinden. Dem entspricht ein "organisches" Denken in Ganzheiten, was beim Menschenbild ansetzt: Der Mensch ist das "vielarmige, nach allen Seiten in die Natur eingesponnene, an tausend physischen und moralischen Fäden mit Vorzeit und Nachwelt zusammenhängende Wesen".

Das Gemeinwesen entsteht weder additiv noch konstruktiv durch Vertrag, es existiert vielmehr immer schon vor den Einzelnen, diese von jenem separat nicht zu denken: "Der Staat ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantilische Sozietät; er ist die innige Verbindung der gesamten physischen und geistigen Bedürfnisse, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation, zu einem großen energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen. (...) Der Staat kann daher auch keine künstlich geschaffene Einrichtung, keine vom Verstand ersonnene Erfindung sein. Er ist der vollendete Ausdruck der Idee, in der das geistige und sittliche Leben eines Volkes im Laufe seiner Geschichte zur Gemeinschaftsform gelangt."

Volk und Nationalität vermitteln zwischen Individuum und Menschheit. Das Volk als Träger nationaler Kultur und Staatlichkeit existiert nicht nur aktuell, es besteht über die Generationen hinweg, bildet ein corpus mysticum von "Zeit-" und "Raumgenossen". Also muß es die Aufgabe des Staatsmanns sein, zeitliche Kontinuität zu stiften und Wechsel und Dauer nach dem geheimen Rhythmus, der im Innern wirkenden nationalen Idee zu gestalten.

Ausdrücklich besteht Müller auf der Reziprozität des völkischen Prinzips: Die Staaten und Nationalkulturen faßt er als inkommensurabel und mannigfaltig auf. Als holistischer Denker bleibt er indes dabei nicht stehen; nach mittelalterlichem Vorbild gehört eine transnationale Idee als dialektisches Komplement zum romantischen Programm. Allerdings vermögen endliche Verstandesbegriffe diese "weltbürgerliche Einheit" nicht zu stiften. Nur die Religion als absoluter Geist ermöglicht eine Konvergenz höherer Ordnung, nur die transzendente Instanz Gottes kann im Zeichen des kosmischen Christus die Völker zusammenführen. Innerer und äußerer Zwiespalt sind im Angesicht Christi aufgehoben, erst das göttliche Licht macht die Menschen zu Brüdern, die naturrechtlichen Luftnummern hingegen bleiben nur wesenloser Schein.

Müller, zwischen Frühsozialismus und Spiritualismus, zwischen spekulativer Wissenschaft und Karlsbader Beschlüssen, zwischen Habsburg und Hohenzollern, zwischen evangelischer Kritik und katholischer Universalität votierte als Humanist für "Weltbürgertum" und "Nationalstaat", immer aber für die lebendigen Gemeinschaften: "Wer in einer Nation mehr zu sehen weiß als die Summe der Einzelnen (...) wie die ewige Weisheit der Natur sie alle durch einander ausgleicht und versöhnt; wer dann das symmetrische Gebäude (...) mit dem Odem der Vergangenheit und des Weltgeistes beseelt: der wird sein Vaterland, wie gesunken und zerbrochen es auf den ersten Anblick erscheinen mag, fühlen, lieben und mit jedem Pulsschlag seines Herzens ihm näher rücken."

Bild: Adam Müller (1779-1829): Der Staat als "eine Person selbst"


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