© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/04 02. Juli 2004

Alle Opfer sind gleich
Erinnerungskultur: Wie die Deutschen mit den Diktaturen in ihrer Geschichte umgehen sollen
Günter Zehm

Unter den gutverdienenden Protagonisten der offiziellen, staatspädagogischen Erinnerungsindustrie herrscht Unruhe. Das Gespenst der "Historisierung" geht dort um. Immer mehr junge Deutsche, so wird geklagt, betrachteten die Vorgänge im Dritten Reich und während des Zweiten Weltkriegs nur noch in historischer Perspektive, fühlten sich nicht mehr primär betroffen und schon gar nicht schuldig. Es werde neuerdings auch zuviel über Verbrechen gesprochen, die andere in den letzten hundert Jahren an Deutschen verübt hätten. Es werde in der jungen Generation zuviel "verglichen".

Alarm löste bei der Regierung und in den Medien der Antrag einer Gruppe von dissidentischen Bundestagsabgeordneten aus CDU und CSU aus, man möge nicht nur der Opfer der NS-Herrschaft, sondern auch der des Kommunismus und des Stalinismus in Deutschland angemessen gedenken und dafür vergleichbare Mittel zur Verfügung stellen. Die politisch korrekten Erinnerungs-Manager heulten auf. Denn jetzt geht es plötzlich nicht nur mehr um fromme Sprüche und zerknirschte Mienen, jetzt geht es um Geld.

Kaum ein Tag verstreicht, an dem nicht immer neue und immer teurere Projekte für Gedenk- und Mahnstätten zur Erinnerung an NS-Opfer in die Öffentlichkeit lanciert werden. In möglichst allen Städten und Gemeinden Deutschlands, so das jüngste Projekt, sollen in den Fußgängerzonen goldene Gedenkplatten im Stile des Hollywooder "Walk of Fame" eingelasssen werden, die an lokale Opfer der NS-Diktatur erinnern. Stadträte, die sich der geplanten Gedenk-Bepflasterung aus Kostengründen widersetzen, werden massiv unter Druck gesetzt und mit politischen Verdächten überzogen. Dagegen ist der besagte CDU/CSU-Antrag für die Kommunismus-Opfer schon wieder sang- und klanglos im Kulturausschuß des Bundestages beerdigt.

"Alle Opfer sind gleich, aber einige sind gleicher als gleich" - so läßt sich, frei nach George Orwell, das aktuelle Strategie-Postulat der Erinnerungsmanager definieren. Jeder Aspekt der "Erinnerungskultur" wird inzwischen nur noch unter diesem einen Postulat gesehen. Daher auch der Feuereifer, mit dem sich die Erinnerungsmanager bereits jetzt auf den 60. Jahrestag der "Befreiung" am 8. Mai 2005 vorbereiten. Es wird an diesem Tag keine Versöhnung der gefallenen Kämpfer über die Gräber hinweg geben, statt dessen eine sorgfältige Trennung zwischen alliierten Siegern einerseits (darunter auch die roten Mordbrenner und Vergewaltiger von Berlin und die Bomberpiloten über Dresden), deutschen "Nazi-Soldaten" andererseits, deren Gräber nicht einmal der auch anwesende deutsche Bundeskanzler estimiert.

Als vor zehn Jahren der fünfzigsten Wiederkehr des Kriegsendes gedacht worden war, sagte die niederländische Königin Beatrix, eine Frau mit Sinn fürs Praktische: Gut, fünfzig ist eine runde Zahl, deshalb haben wir jetzt noch einmal kräftig gefeiert. Aber von nun an sollte damit Schluß sein. Wir haben weiß Gott Wichtigeres zu tun und dringendere Anlässe, unser Geld auszugeben. Arme Beatrix! Nie ist ein vernünftiger Ratschlag weniger erhört worden als der ihre. Nach den aktuellen Planungen soll es am 8. Mai 2005 Feiern geben, die an Feier-Intensität alles bisher Erlebte in den Schatten stellen. Es soll tage- und wochenlang dröhnen und dröhnen. Kosten sollen keine Rolle spielen.

Ob der Effekt freilich hinreichen wird, das derzeitige Unbehagen der Erinnerungsindustrie angesichts von Historisierung und um sich greifender Gleichgültigkeit in den jüngeren Generationen aufzuheitern, darf bezweifelt werden. Eher das Gegenteil ist zu gewärtigen. Denn je mehr und je dröhnender gefeiert wird, je mehr Gedenkplatten in die Fußgängerzonen eingezogen werden, während die Kommunismus-Opfer weiterhin im Schatten stehenbleiben, um so gleichgültiger, ja, unwilliger wird die Jugend darauf reagieren. Und das liegt nicht an der Verstocktheit dieser Jugend, es liegt in der Natur der Sache selbst, in den spezifischen Eigenarten, die jedes menschliche Erinnern nun einmal in sich trägt.

Schon der junge Nietzsche hat im neunzehnten Jahrhundert darüber Auskunft gegeben, obwohl er das Phänomen der "negativen Erinnerung" (daß Völker also nicht ihre hellen Taten, sondern ihre Katastrophen und Verbrechen dauerhaft erinnern und feiern sollen) noch gar nicht kannte. In seiner Schrift "Vom Nutzen und Nachteil der Historie" kann man nachlesen, daß "bloßes Erinnern", forciertes Leben in der Vergangenheit und für die Vergangenheit, die Seelen schwächt und verbildet und daß das bloße Erinnern deshalb von jungen, aufstrebenden, tatendurstigen Generationen spontan abgelehnt wird.

Führungsschichten und Pädagogen, die immer nur wieder Vergangenheit aufkochen, schaden den von ihnen Geführten. Und das gilt selbstverständlich in verstärktem Maße, wenn es sich um negative Vergangenheit handelt und wenn mit dem Aufkochen ganz planmäßig ein Schuldstiften verbunden wird, wenn den Jungen suggeriert wird, daß sie Angehörige einer geradezu genetisch verfluchten Gemeinschaft seien, die mit angeblich unaufhebbarer und faktisch ewiger Schuld beladen ist. Man braucht an sich keinen Nietzsche, es genügt der gesunde Menschenverstand, um die Wahrheit solcher Feststellung einzusehen.

Die Art und Weise, wie die derzeitige deutsche Erinnerungsindustrie produziert und ihre Waren kapitalisiert, ist eindeutig gegen das eigene Land und seine jungen Generationen gerichtet. Was nach 1945 an guten, konstruktiven Kräften noch übrig war und (zumindest im Westen) einen gloriosen Wiederaufbau schaffte, wird systematisch in den Staub getreten, verhöhnt und perhorresziert. Verantwortlich dafür sind die nach der Wiederaufbaugeneration antretende Generation der vom NS enttäuschten "Flakhelfer" und die von ihr erzogenen 68er. Sie sind es, die - wie Bernt von Heiseler schon 1968 tiefbekümmert schrieb - für den tatsächlichen Kulturbruch in Deutschland sorgten und ganz bewußt den aktuellen Niedergang einleiteten.

Wenn sich heute neue Generationen von den Lehrplänen und Indoktrinierungsmodellen der Niedergangsmechaniker abwenden, so ist das nicht nur ein Zeichen von "Historisierung", sondern auch eines für Normalisierung in einem ganz umfassenden, das Leben wie die Erinnerung gleichermaßen prägenden Sinne. Der Blick wird wieder frei für das, was Erinnerung eigentlich heißt: sorgfältiges, von Paragraphen und sonstigen Drohungen unbehelligtes Forschen nach dem, was wirklich gewesen ist, und ehrliches Bemühen um ein Verstehen der Vergangenheit von deren eigenen Voraussetzungen her.

Foto: Sachsenhausen: Bis 1945 NS-Konzentrationslager, danach bis 1950 von Kommunisten weitergeführt


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