© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/04 25. Juni 2004

"Damals im Politbüro, heute im EU-Rat"
Interview: Der Prager Politologe Michal Semin über das Demokratiedefizit in der Europäischen Union
Moritz Schwarz

Herr Semin, in den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Staaten haben meist weniger als ein Drittel der Berechtigten das EU-Parlament mitgewählt. Woher kommt die Wahlmüdigkeit?

Semin: Nur wenige Bürger interessieren sich für Europapolitik, die EU, ihre Institutionen und ihre Prozesse. Die Menschen hier sind noch viel weniger als jene in Westeuropa mit der Rolle supranationaler Organisationen vertraut, und außerdem wird der Nationalstaat noch stärker als die relevante Größe politischer Entscheidungsfindung betrachtet. Was natürlich auch zutrifft. Das politische Establishment hierzulande identifiziert sich meist schon mehr mit dem politischen Establishment Westeuropas als mit den kleinen Leuten, die sie eigentlich vertreten. Deshalb hat es ein anderes Empfinden für EU-Belange. Zwar hat die EU in der Tat schon einen gewissen politischen Einfluß, doch dieser geht nicht vom demokratisch gewählten EU-Parlament aus, sondern vom nicht wirklich demokratisch legitimierten EU-Rat. Die Wahl vom 13. Juni war sozusagen nur eine mindere Form von politischer Institution, doch darüber täuschen die Politiker mit ihrer "EU-Euphorie" hinweg.

Es entsteht eine neue Nomenklatur?

Semin: So ist es, vor allem im Bereich der Europäischen Kommission, die von der EU-Technokratie völlig vor den Bürgern abgeschirmt wird. Während ins Europäische Parlament prinzipiell auch EU-kritische Gruppierungen einziehen können, wird niemand Mitglied der EU-Kommission, der eine andere Auffassung hat als die prinzipielle Bejahung der EU-Projektes. Dafür sorgt der Europäische Rat. Man kann getrost davon ausgehen, daß die Mehrheit der Europäer wohl nicht ohne weiteres mit dem Weg, den das Projekt EU nehmen soll, einverstanden ist. Doch diese Auffassung zahlloser Menschen in Europa hat niemals auch nur die geringste Chance, in der EU-Kommission eine gewisse - geschweige denn, eine angemessene - Repräsentation zu finden! Die Politiker sind unter sich - und das in einer Demokratie. Aber auch schon das - immerhin noch demokratisch beschickte - EU-Parlament bedeutet für Politiker, die aus einer "direkten" nationalstaatlichen Demokratie kommen, eine "schöne neue Welt" mit hochbezahlten Posten, geringer Verantwortung, geringerer öffentlicher Kontrolle.

Eine Art Urlaubsparadies von der Volkssouveränität?

Semin: Der derzeitige Skandal um das "Spesenrittertum" in der EU kommt wohl nicht von ungefähr. Es entwickelt sich unter Europaparlamentariern durchaus eine Avantgarde-Mentalität: Während sich die Mehrheit der Bürger in Europa kaum für die EU interessiert, bildet man selbst die - wenn auch machtlose - Vorhut der sogenannten "europäischen Idee". Da entsteht natürlich ein Gefühl des moralischen "Privilegiertseins", das einer solchen "Selbstbedienungsmentalität" natürlich Vorschub leistet.

Also ist der Vergleich mit den Schau-Parlamenten im Kommunismus nicht ganz abwegig?

Semin: Technisch gesehen trifft er absolut zu. Auch das EU-Parlament soll den Menschen demokratische Teilhabe vorgaukeln, die es so nicht gibt - die Entscheidungen fallen ganz woanders: damals im Politbüro, heute im Europäischen Rat. Aber natürlich - ich möchte nicht polemisch sein - gibt es immer noch erhebliche Unterschiede zwischen dem Europäischen Parlament und zum Beispiel der früheren "DDR-Volkskammer".

Augenfällig ist auch eine weitere Gemeinsamkeit: die der "propagandistischen" Außenwirkung des Europäischen Parlaments.

Semin: Das stimmt, auch hier gibt es Parallelen. Während die Parlamente im Kommunismus auch die Aufgabe hatten, die "Einheit der Arbeiterklasse" zu symbolisieren - die es bekanntlich nicht gab -, gaukelt das Europäische Parlament ein europäisches Staatsbürgertum vor, das ebenfalls nicht existiert. Der "europäische Staatsbürger" ist politisches Wunschdenken, eine reine Kreation der EU-Apologeten - was Ihnen wohl jeder ernstzunehmende Soziologe bestätigen kann.

Vor 1989 blickten viele Osteuropäer stets hoffnungsvoll gen Westen, die Wende brachte zunächst das Versprechen echter Demokratie nach über 40 Jahren kommunistischer Herrschaft. Gab es einen Moment der Ernüchterung?

Semin: Sicherlich, denn der Inhalt des europäischen Projektes hat sich verändert. Das EU-Projekt hat heute nichts mehr mit dem Paneuropa-Gedanken Graf Coudenhoven-Kalergis - des Begründers der politischen Europa-Idee - zu tun. Heute geht es nicht mehr um eine defensive Einigung des christlichen Abendlandes auf der Basis seiner traditionellen Werte. Inzwischen haben die "Achtundsechziger" die EU übernommen. Ich nenne zum Beispiel die Namen Javier Solana, Joschka Fischer oder Lord Robertson - alles Leute von der extremen Linken. Ihre Agenda folgt nicht der Idee des christlichen Abendlandes, sondern folgt der offensiven Agenda einer "One-World". Europa ist nur ein Mittel zum Zweck der "Beglückung" und Vereinheitlichung am liebsten der ganzen Welt. Unter dem Deckmäntelchen von Demokratie und Humanitarismus ist ein Projekt der internationalen Umgestaltung im Gange.

Gegen Demokratie und Humanität ist aber doch nichts einzuwenden?

Semin: Das sind Begriffe, die einen "Gramscismus", also den Marsch durch die Instutionen, bemänteln sollen. Für diese Strategie ist eine vertraueneinflößende Sprache notwendig. Die alten sozialistischen Kampfbegriffe sind nicht mehr opportun. Schließlich sind die Zeiten des Klassenkampfes vorbei. Radikale Gedanken werden in gemäßigte, wohlfeile Begriffe gepackt. Begriffe wie "Demokratie und Menschenrechte" öffnen den Zugang zur nicht-linken, indifferenten "bürgerlichen" Mehrheit. Und mit der Dynamik eines angeblichen gemeinsamen Aufbruchs "nach Europa" sollen die Verhältnisse in Bewegung gebracht werden, um sie dann umgestalten zu können. Gewachsene Strukturen kann man nicht einfach abschaffen, dazu braucht man einen Hebel. Familie, Kultur, Traditionen, Religion und Nation sollen im Zuge des Aufbruches den "europäischen" Strukturen untergeordnet werden, was auf ihre Erweichung, schließlich ihre substantielle Abschaffung hinausläuft.

Haben Sie einen Beweis für diese sehr weitgehende Behauptung?

Semin: Zu diesen bestehenden Strukturen in Gefahr gehört zum Beispiel auch der traditionelle Rechtsstaat. Denken Sie an die verschiedenen Antidiskriminierungs-Initiativen der EU.

Die künftig die Beweislast umkehren: Dann muß nicht mehr nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten der Kläger die Schuld des Beklagten, sondern der Beklagte muß seine Unschuld nachweisen.

Semin: Mit den rechtsstaatlichen Maßstäben einer freiheitlichen Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun, es handelt sich vielmehr um ein typisches Merkmal aus dem politischen Baukasten totalitärer Gesinnungsdiktaturen. Es ist beängstigend.

Warum findet diese Erkenntnis eher in Osteuropa als in Westeuropa Widerhall?

Semin: Vielleicht fehlt den Westeuropäern die Erfahrung mit der kommunistischen Diktatur. Allerdings muß ich feststellen, daß dieser Prozeß auch hierzulande nur von einer absoluten Minderheit reflektiert wird - der breiten Masse fehlt das intellektuelle Niveau, und unsere politischen Eliten orientieren sich wie gesagt überwiegend gen Westen. Der historische Kommunismus gab sich in Osteueropa vor seiner "Machtergreifung" in kulturellen und gesellschaftlichen Fragen betont libertär, um die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen erst einmal zu erweichen und um ins Bürgertum eindringen zu können. Man kämpfte zum Beispiel den Kampf der Befreiung der Frau, den Kampf der Pazifisten gegen den Krieg, den Kampf der Kunst gegen die Konvention. Als er dann an der Macht war, war es mit Befreiung, Pazifismus und moderner Kunst allerdings vorbei. Auch heute wird das libertäre Individuum gegen die bestehenden Strukturen in Stellung gebracht. Statt der Entfesselung des Proletariats die Entfesselung des Individuums. Die gesellschaftlichen Innovationen der EU - erneut Stichwort "Antidiskriminierung" - und der zunehmende Individualismus korrespondieren. Was aber bleibt, wenn alle traditionellen Strukturen zerstört sind? Der "europäische" Superstaat und eine amorphe Masse atomisierter Individuen. Eine neue totalitäre Gefahr für Europa! Denn totaler Individualismus ist eng mit totalem Kollektivismus verbunden - er ist nicht nur seine funktionelle Voraussetzung, sondern historisch gesehen auch stets sein Vorstadium gewesen.

Gleichwohl begreifen Sie sich nicht als Anti-Europäer?

Semin: Nein, ganz im Gegenteil! Bei dem EU-Projekt geht es wie ausgeführt gar nicht um Europa, vielmehr um die Abschaffung Europas. Europa, das ist eine spezifische Geschichte, Kultur und Tradition. All das soll durch das EU-Projekt abgeschafft werden, zugunsten einer einheitlichen "One-world"-Konzeption. Der beste Beweis ist die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei. Unter wirklich europäischen Gesichtspunkten gäbe es eine solche Debatte gar nicht. Und aus demselben Grund ist für unsere derzeitigen politischen Eliten auch Freizügigkeit für Europäer in der EU gleichwertig mit der Masseneinwanderung nach Europa. Europa soll nicht geschaffen, sondern internationalisiert, sprich beseitigt werden. Die Auflösung der EU und eine Neustrukturierung in Gestalt eines friedlichen, freien und kooperativen Europas der Vaterländer ist also die wahre europäische Forderung.

 

Michal Semin ist Mitbegründer, Vorstandsmitglied und Dozent des unabhängigen Obcansky-Instituts in Prag ( www.obcinst.cz ). Die konservative Denkfabrik ging 1991 aus der tschechischen antikommunistischen Untergrundbewegung hervor. Semin, geboren 1967 in Prag, studierte tschechische Literatur, Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Prager Karlsuniversität. Vor Beginn der "samtenen Revolution" 1989 war er wegen antikommunistischer Aktivitäten von der Universität ausgeschlossen worden.

Foto: Außenminister Joseph Fischer (l.) mit EU-Außen- und Sicherheitskoordinator Javier Solana: "In-zwischen haben die 'Achtundsechziger' die EU übernommen - alles Leute von der extremen Linken"

 

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