© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/04 04. Juni 2004

Wir können auch anders
von Angelika Willig

Die mangelnde Forschungsbegeisterung in Deutschland (JF 23/04) scheint prompt widerlegt worden zu sein. In einer bisher einzigartigen Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut und der Max-Planck-Gesellschaft hat die Universität Lübeck ein weltweit aufsehenerregendes Resultat vorgelegt. Dem Privatdozenten Charli Kruse und seinem Team ist der Nachweis gelungen, daß sich im Gewebe der Bauchspeicheldrüse adulte pluripotente Stammzellen befinden. Dies sind Zellen, die sich unter entsprechender Behandlung in jede der zwanzig Zellarten des Menschen differenzieren können. Bisher schrieb man diese Fähigkeit nur den Zellen im ersten Stadium der Embryonalentwicklung zu. Um an der Gewebezüchtung (tissue engineering) und Organgewinnung für medizinische Zwecke arbeiten zu können, waren Wissenschaftler daher auf den Verbrauch menschlicher Embryonen angewiesen. In Deutschland gestattete der Embryonenschutz nur ganz wenigen Forschern in beschränktem Umfang den Zugang zu dem wohl kostbarsten Material, das die Natur hervorbringt.

Wenn sich die neue Methode zur Gewinnung von Stammzellen bewährt, fände eine seit Jahren heftig geführt ethische Debatte ihr plötzliches Ende. Wegen der Abtreibungspraxis wohnte ihr ohnehin eine Verlogenheit inne. Deutsche Wissenschaftler hätten einen Grund weniger zum Auswandern, und vielleicht können sich die Deutschen sogar bei der kommerziellen Ausnutzung ihr Privileg erhalten. Nicht zum ersten Mal hat ein Verbot die Kreativität gefördert. Wem alles erlaubt ist, der braucht sich auch nichts einfallen zu lassen.


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