© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/04 28. Mai 2004

Die zweite Aufklärung
von Angelika Willig

Die Bundesregierung macht sich große Sorgen um Deutschland als Wissenschaftsstandort. Man befürchtet, daß künftige Arbeitsplätze in Spitzentech-nologien nicht in Deutschland, sondern anderswo entstehen könnten. Deshalb hat die Bundesregierung eine Studie zur Stammzellforschung beim Max-Del-brück-Centrum für molekulare Medizin (MDC) in Auftrag gegeben, die als Delphi-Studie bezeichnet wird.

Es handelt sich um eine Umfrage unter deutschen Wissenschaftlern, die thematisch mit der Stammzellforschung befaßt sind oder es gern wären, wenn sie an die begehrten embryonalen Stammzellen herankommen könnten. Nach dem Bundestagsbeschluß von 2001 werden nur einzelne Forscher unter restriktiven Bedingungen damit versorgt. Zum Vergleich: In London ist gerade eine Stammzellbank eröffnet worden, aus der sich jeder Forscher weltweit bedienen kann. Offenbar wollten die verunsicherten Regierungsparteien von deutschen Wissenschaftlern ausdrücklich hören, daß man mit der Stammzellregelung von 2001 unzufrieden ist, um daraus eine neue Debatte abzuleiten, wie sie Justizministerin Brigitte Zypries vor einiger Zeit schon gefordert hatte (JF 46/03). Die Delphi-Studie ergibt über die Unzufriedenheit hinaus, daß ein großer Teil einschlägig qualifizierter Wissenschaftler bereits für die nächsten fünf Jahre seine Abwanderung plant. Diese Information löste bei den Politikern Entsetzen aus.

Der gewöhnliche Zeitungsleser muß die "embryonalen Stammzellen" (ES) mittlerweile schon für eine Art Hostie halten, die sich bei gutem Zureden in Arbeitsplätze, Steuereinnahmen oder ganz einfach in Euro verwandelt. Biologisch gesehen sind ES jedoch nichts anderes als Körperzellen, die sich noch nicht auf eine bestimmte Gewebeart spezialisiert haben, sondern das Potential für alle Zelltypen in sich tragen. In diesem Stadium verbleiben die Zellen nur wenige Tage nach der Befruchtung, und nur so lassen sie sich für genthera-peutische Vorarbeiten nutzen. Was also bei der Stammzellforschung bestenfalls herauskommen kann, sind neue Medikamente. Sicher läßt sich mit pharmazeutischen Produkten viel Geld verdienen, doch einen Staat kann man damit sicherlich nicht sanieren. Zumal noch gar nicht feststeht, welche Rolle die Gentherapie in der künftigen Medizin überhaupt spielen wird - und Wissenschaftler zunehmend in der Lage sind, embryonale durch adulte Stammzellen zu ersetzen. Einer der berühmten Wis-senschaftsflüchtlinge der letzten Jahre, Hans Schöler, ist daher aus den USA gerade wieder nach Deutschland ans Max-Planck-Institut zurückgekehrt.

Doch es geht nicht bloß um die Stammzellen. Es geht um ein Klima der Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit, das besonders in Deutschland verbreitet ist. Nach sechs Jahren Boykott hat Europa in diesen Tagen erstmals ein gentechnisch verändertes Lebensmittel für den Verkauf genehmigt. Vorschriftsmäßig gekennzeichnet, steht der Gemüsemais von der Schweizer Firma Syngenta in den Regalen.

Die Delphi-Studie hat gerade ergeben, daß die deutschen Wissenschaftler mit der Stammzellregelung von 2001 unzufrieden sind und ein Großteil von ihnen bereits den baldigen Absprung ins Ausland plant.

Die Bestimmung ist direkt von der EU an den heillos zerstrittenen Einzelregierungen vorbei erlassen worden und nur, weil die USA vor der WTO immer wieder gegen den Boykott klagten. Richtig ist: Kein Mensch braucht Genmais. Bestenfalls ist die Ware aufgrund der Schädlingsimmunität etwas billiger, doch Lebensmittel sind hier ohnehin skandalös billig. Trotzdem wäre die Verhinderung von Genfood kein Sieg. Mögen viele Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Gentechnik wie bei jeder anderen Technologie verzichtbar bis unsympathisch sein, die Verweigerung ist noch keine Leistung. Was wir brauchen, sind Menschen, die fortschrittlicher agieren als das, was man heute allgemein unter Fortschritt versteht und was die großen Konzerne anbieten. Das Moralisieren von Greenpeace oder Attac trägt hingegen vor-aufklärerische Züge. Die grüne Gentechnik wird quasi gleichgesetzt mit dem Wildern am Baum der Erkenntnis, ein Sündenfall, bei dem die gerechte Strafe in Form kontaminierter karzinogen gewordener Kartoffeln nicht lange ausbleiben kann.

In ethisch gewissenhaften Kreisen ist man der Meinung, daß ein weiterer technischer Fortschritt "nicht nötig" sei. "Wir haben doch alles", lautet die Devise. Höchstens junge Leute begeistern sich noch für die neuen Superhandys, der Rest warnt lieber vor den Risiken neuer Technologien allgemein und ganz besonders im sensiblen Bereich des Lebens.

Doch schlimmer als die physische Überalterung, von der überall gesprochen wird, könnte sich eine verbreitete greisenhafte Denkweise auswirken. In jeder geschichtlichen Epoche hat die jeweils fortschrittlichste - und damit auch gefährlichste - Technologie die Lokomotive der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung gebildet bis hin zu den weltanschaulichen Veränderungen. Man kann nicht einfach den ersten Wagen abschneiden, weil dann das Ganze ins Stocken gerät. Wissenschaft und Forschung lassen sich nicht punktuell dort einsetzen, wo es bestimmten Interessen entspricht, in den schwierigen und gefährlichen Bereichen hingegen per Bundestagsbeschluß oder sonstwie verbieten.

In seinem Beitrag zur Bildungspolitik (JF 21/04) vertritt Bernd-Thomas Ramb die Ansicht, daß vor allem falsche Inhalte zum Scheitern des deutschen Bildungssystems beigetragen haben. Er spricht vom "ideologischen Filter", der Schulen und Universitäten lähme, und von einer "Gedankenfreiheit", die auch mit höheren Bildungsetats nicht zu ersetzen sei. Damit ist nicht nur die Pflege eines geschichtlichen Bewußtseins gemeint. Vielmehr stehen die naturwissenschaftlichen Unterrichtsinhalte schon seit Jahrzehnten in eklatantem Widerspruch zu den egalitären und nivellierenden Botschaften der humanistischen Fächer. Das entzieht beiden Wissensbereichen die eigentliche Anziehungskraft. Dem einen nimmt es die gesellschaftliche Relevanz, dem anderen die wissenschaftliche Qualität.

Mit welchen Schwierigkeiten der bioethische Diskurs noch behaftet ist, zeigt gerade das Beispiel Embryonenschutz. Gewissenhaft wird ein winziger Zellhaufen, der bloß an der DNA-Sequenz als Mensch zu erkennen ist, gegen medizinisch-pharmazeutische Interessen verteidigt, während massenweise Embryonen bis zum dritten Monat, manchmal darüber hinaus, auf Krankenschein abgetrieben werden, weil die Schwangeren keine Lust auf Kinder haben. Da muß man doch auf den Gedanken kommen, daß der Embryonenschutz im Fall der Stammzellforschung nur vorgeschoben ist, und daß es in Wirklichkeit darum geht, die weitere Entwicklung der Genforschung überhaupt zu be- und verhindern. Diffus fürchtet man geklonte Sportler, trans-gene Übermenschen und dergleichen oder auch monsterhaft mißratene Exemplare und versteckt sich hinter dem Embryonenschutz, weil das bequemer ist, als die beschriebenen Vorbehalte zu äußern und offen zu erörtern.

Wie sieht aber die Alternative aus? Was könnte das "Siechtum der Bil-dungsinhalte" (Ramb) beenden und zur neuen Blüte führen?

Auf keinen Fall hat es Sinn, die Liebe zur Genforschung im Hinblick auf Arbeitsplätze von oben befehlen zu wol-len. Schon deshalb, weil wir noch gar nicht wissen, was wirklich lukrativ ist. Die Liebe muß dem Experiment überhaupt gelten; das Interessante sollte zumindest bei einigen über das Nützliche und Angenehme gehen.

So unbescheidene Wünsche würde man gar nicht zu äußern wagen, wenn es nicht schon einen bemerkenswerten Vorstoß in dieser Richtung gäbe. Unter dem Titel "Leben, Natur, Wissenschaft" haben drei Autoren im letzten Jahr beim Eichborn-Verlag ein 600seitiges Werk vorgelegt, das im Untertitel ganz unbescheiden lautet: "Alles, was man wissen muß". Es ist aber weder ein Nachschlagewerk noch ein "Kanon", wie ihn etwa Dietrich Schwanitz für die Geisteswissenschaften zusammengestellt hat oder Reich-Ranicki für die deutsche Literatur. Man findet hier keine Schlagworte und Autorennamen. Nein, das Buch selbst ist schon das Ganze, was man lesen muß, um "alles zu wissen", und dafür ist es erfreulich knapp und lesbar geschrieben. Für den Besucher der Wissenschaftsressorts großer Zeitungen ergibt sich ein Wiedererkennungseffekt.

Wer Philosophie und Literatur studiert hat, weiß, daß es in jeder Vorlesung und in jedem Buch immer wieder um die gleichen Fragen geht. Je mehr man kennt, desto weniger muß man sich merken, weil alles sich mit allem berührt. Wenn man nun Detlev Ganten hört, so verhält es sich bei den Naturwissenschaften genauso. Ganten ist Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Pharmakologie an der FU Berlin und Gründungsdirektor des genannten Max-Delbrück-Centrums sowie Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften - Kompetenz ist ihm also nicht so leicht abzusprechen. Im Verein mit den Wis-senschaftsjournalisten Thomas Deichmann und Thilo Spahl zerstört Ganten die Legende vom ständig anschwellenden, von keinem Menschen mehr zu bewältigenden Wissensstrom: "Die Befürchtung, die verschiedenen Wissenszweige würden sich mehr und mehr entfremden, weil die Wissensmenge exponentiell zunehme, wodurch die Forschungsgebiete einzelner stetig verengt würden, findet in den aktuellen Entwicklungen keine Bestätigung. Die 'Wissensexplosion' ist sowieso nur eine Chimäre." Die Bewegung verläuft umgekehrt: "Statt sich mehr und mehr zu entfremden, wachsen viele wissenschaftliche Disziplinen und ihre Unterabteilungen immer mehr zusammen. (...) Erst im letzten Jahrhundert und massiv in der Nachkriegszeit mit den großen Fortschritten in der Geologie, Physik, Chemie und Biologie erkannte man das komplexe Wechselspiel des Systems Erde. Was früher als eine unüberschaubare Fauna und Flora der Welt erschien, zeigt sich heute, im Lichte eines molekularen Verständnisses der Evolution, als logisch nachvollziehbares Kontinuum eines gemeinsamen, dynamischen Entwicklungsprozesses."

Wissenschaft und Technik lassen sich nicht kurzfristig und rein arbeitsplatzorientiert fördern. Wir brauchen ein Umdenken bis in die Bereiche von Kultur und Philosophie hinein. Dafür gibt es bereits einige gute Ansätze.

Genau diesen Prozeß stellt das Buch in fünf großen Kapiteln dar. Der Mensch kommt darin nicht nur als evolutionäres Produkt vor und als Naturverarbeiter, sondern auch als Schöpfer einer beginnenden zweiten Evolution. Das Buch ist nicht neutral, das macht es so spannend, sondern gibt sich cum grano salis als eine "Bibel des Wissen-schaftsglaubens". Die Verfasser halten eine Wiedervereinigung der "zwei Kulturen" für nötig und möglich: "Unsere Zukunft wird in hohem Maße davon abhängen, ob nur wenige Experten darüber informiert sind und die Weichen stellen oder ob viele von uns über das Rüstzeug für eine kritisch nachfragende, informierte, das heißt wissenschaftliche Weltsicht verfügen." In den Ethikkommissionen verläuft die Diskussion quer durch ganz unterschiedliche Fachgebiete. Wie wäre das möglich, wenn nicht der Geist über den Grenzen von Kultur- und Naturwissenschaft wehte?

Sogar gegenüber dem bisher überall verpönten "Eingriff in die menschliche Keimbahn", das heißt, der genetischen Veränderung unserer Spezies, sprechen die Verfasser kein endgültiges Nein aus. "Die neuen Möglichkeiten, ins Erbgut von Menschen, Tieren und Pflanzen einzugreifen und immer gezielter Einfluß auf die biologische Reproduktion zu nehmen, stellen eine qualitativ neue Stufe der Intervention in natürliche Prozesse dar", heißt es vorsichtig. In Frage gestellt wird der Begriff der "Natürlichkeit": "Allerdings beruhen menschliches Leben, Kultur und Zivilisation, von der Landwirtschaft bis zur Medizin, seit jeher auf Techniken, die den natürlichen Lauf der Dinge verändern." Man muß also nicht für Genmanipulation am Menschen sein. Doch das beliebte Argument, daß dergleichen "unnatürlich" oder "nicht im Sinne der Schöpfung" sei, zeugt nach den hier geltenden Kriterien einfach von Denkfaulheit.

Jedenfalls fühlen sich unsere Autoren ziemlich von Ignoranten umgeben, deren Bewußtsein um einige Jahrzehnte bis Jahrhunderte hinterherhinkt. In diesem Sinne identifizieren sie sich mit dem Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant und dessen Wort vom "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit".

Wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts haben wir einen Aufschwung der Wissenschaften zu verzeichnen, dem aber nur wenige geistig folgen können oder wollen. Besonders der Deutsche, damals noch ganz im Klischee von Zipfelmütze und Gartenzwerg dargestellt, liebt seine Gemütlichkeit im Leben wie im Denken. Nur profitieren möchte er doch vom Fortschritt und ringt sich daher gelegentlich ein Forschungsprogramm oder eine Elite-Förderung ab, um Versäumtes schnell wieder aufzuholen. Katharina Reiche, betont fortschrittliche CDU-Abgeordnete und gelernte Chemikerin, beklagt besonders die Strafbarkeit nicht genehmigter Stammzellforschung: "Viele Forscher fühlen sich kriminalisiert", erklärt sie.

Für die Unternehmen ist es sicher kein Anreiz, potentielle Kriminelle mit ihrem Markennamen zu verbinden. Die Unbeliebtheit hat aber immerhin den Vorteil, jenes Moment des Heroischen, das Forschung auch an sich hat, wieder zu betonen. Früher impften sich Forscher wagemutig mit ihren eigenen Produkten, weil sie keinem anderen Menschen das Risiko zumuten wollten. Zumindest berichten es die alten Biographien. Die Anatomen hatten sich die Leichen heimlich nachts von den Galgen holen müssen, weil die Sezierung gegen die "Totenruhe" verstieß. Letztlich geht es um die nicht immer beliebte "Erkenntnis, daß nichts bleibt, wie es ist", formuliert Ganten. Neugier ist ein "Verbrechen", das noch niemand auf Dauer verhindern konnte.

 

Dr. Angelika Willig, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Lateinische Philologie in Freiburg und München.

Foto: Kleinkind mit klassischem Molekülmodell: Die Bildungsideale dürfen der wissenschaftlichen Entwicklung nicht zu weit hinterherhinken.


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