© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/04 21. Mai 2004

Vorsicht vor rechnenden Pferden und Affen
Zahlenschwäche: Beim Kampf gegen die Dyskalkulie darf der Kampf gegen die Leseschwäche nicht vernachlässigt werden
Richard Stoltz

Man lernt nie aus. Zur Legasthenie, der Leseschwäche, tritt jetzt die "Dyskalkulie", die Rechenschwäche. Psychologen der Universität Würzburg haben den Begriff geprägt. Ihnen war aufgefallen, daß immer mehr Menschen offenbar nicht mehr bis drei zählen können und Politiker sich um Milliarden verrechnen. In einem breit angelegten Feldversuch mit Kindern haben sie nun festgestellt, daß diese Dyskalkulie schon im zartesten Alter auftritt, aber geheilt oder zumindest eingedämmt werden kann, wenn man ihr früh genug begegnet.

Ob mit einem entschlossenen Kampf gegen die Dyskalkulie das allgemeine Bildungsniveau gehoben wird, ist freilich fraglich. Auffällig ist doch, daß gerade in Kreisen, wo immer nur gerechnet wird, wo es immer nur darum geht, wie man eine Sache richtig "kalkuliert", um den höchsten Nutzwert für sich selbst herauszuschlagen - daß also speziell in solchen Kreisen die Allgemeinbildung dramatisch sinkt. Man sieht dort nur noch Zahlen, sieht bald die Welt vor lauter Zahlen nicht mehr.

Mit anderen Worten: Dyskalkulie und Legasthenie stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Auch die Würzburger Psychologen haben festgestellt: Legastheniker können oft durchaus gut rechnen, Dyskalkulierer meistens gut lesen. Die Welt richtig lesen und die Welt nutzenträchtig berechnen und ausbeuten, das sind eben zwei völlig verschiedene Paar Strümpfe.

Man sollte also beim Kampf gegen die Dyskalkulie niemals den Kampf gegen die Legasthenie vernachlässigen. Sonst könnte es eines Tages passieren, daß zwar plötzlich alle wieder bis drei zählen können (zumindest wenn es um den eigenen Lohnzettel geht), aber fast niemand mehr das ABC ordentlich anwenden kann. Im Zirkus gibt es bekanntlich rechnende Pferde oder rechnende Affen, die trotzdem nicht lesen können. Die sollten nicht unsere Vorbilder werden.


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