© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/04 07. Mai 2004

Jahrmarkt der Eitelkeiten
Die Berliner Antisemitismus-Konferenz hat nur heiße Luft produziert
Doris Neujahr

Antisemitismus ist verwerflich, und man muß ihm entgegentreten. Voraussetzungen dafür sind trennscharfe Definitionen und Diagnosen, die von politischer Taktiererei frei sind. Die OSZE-Konferenz, die vergangene Woche mit über 500 Vertretern von Regierungen und Organisationen aus über 50 Ländern in Berlin stattfand, war dafür ungeeignet.

Derartige Veranstaltungen können per se nicht mehr sehr als ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, auf dem Fensterreden gehalten und Selbstdarstellungen betrieben werden. So wissen wir nun zwar, daß Ralph Giordano und Elie Wiesel im Wettbewerb um die exaltierteste Altherren-Frisur stehen. Aber sonst? Die "Berliner Erklärung", die verabschiedet wurde, ist so pompös wie inhaltsleer. Was sollte und wollte diese Konferenz wirklich? Verlauf und Begleitumstände erlauben vier Schlußfolgerungen.

Erstens: Kurz vor Tagungsbeginn lancierte die in den USA ansässige Anti-Defamation League (ADL) eine Umfrage, deren Ergebnissen zufolge 36 Prozent der Deutschen antisemitisch dächten. Als ein Beleg dafür wurde die Zustimmung zu der Aussage gewertet: "Juden sind Israel gegenüber loyaler als diesem Land." Nun gibt es hierzulande viele, die den deutschen Schuldkomplex dermaßen verinnerlicht haben, daß sie eine Loyalität zu Deutschland grundsätzlich ablehnen. Jede andere Loyalität - also auch die der deutschen Juden zu Israel - ist für sie natürlicher. Man kann diese Haltung für falsch halten, antisemitisch ist sie nicht. Die ADL-Umfrage ist folglich wertlos. Sie zielte auf Desinformation und auf das Anheizen des Alarmismus, des massenpsychologischen Ausnahmezustandes, der politische Rationalität nicht zuläßt.

In bezug auf den Antisemitismus hat Deutschland seine Lektion gelernt. Es mag einen Bodensatz von Antisemiten geben, wie es auch Anhänger der Wünschelrute oder des Haareschneidens bei Vollmond gibt. Den Bestand einer freien Gesellschaft tangieren sie nicht. Der einzig relevante Antisemitismus in Deutschland ist arabisch-muslimischer Provenienz und verdankt sich einer verfehlten Zuwanderungspolitik, die - und hier schließt sich ein Teufelskreis - im bundesdeutschen Alarmismus wurzelt. Die Bewältigungsdiva Margarete Mitscherlich plädierte 1986 dafür, den verbrecherischen Volkscharakter der Deutschen durch die intensive Vermischung mit kinderreichen Farbigen der dritten Welt zu ändern. Man sieht, wohin diese Züchtungsphantasien geführt haben.

Zweitens: Die Konferenz war als Warnschuß in Richtung Osteuropa gedacht. Der Westen ist verstört, weil die Leidensgeschichte und -topographie Osteuropas sich seiner Begrifflichkeit entzieht. Die Bestrebungen, dem Osten das offizielle Geschichtsbild des Westens überzustülpen, sind vielleicht unvermeidliche Begleiterscheinungen der politischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse. Man muß ihnen aber widerstehen und den Osteuropäern Zeit lassen, mit ihren erlebten Schrecken und mit den Schattenseiten ihrer Historie selber ins reine zu kommen. In bezug auf die Vertreibung der Deutschen gilt das inzwischen als selbstverständlich. Ein westlicher Oktroi würde nur die Etablierung einer autochthonen politischen Kultur verhindern, die zur Regulierung sozialer Spannungen unabdingbar ist. Die Alternative besteht in dauerhaft alimentierungsbedürftigen Massen. Gerade Deutschland, wo der politisch-psychologische Sieg, den der Westen nach 1989 feierte, jetzt als ökonomisch-finanzielle Katastrophe über ihn hereinbricht, sollte gewarnt sein.

Drittens: Der Nahostkonflikt vergiftet das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen und beeinflußt die öffentliche Meinung in Europa. Der Vergleich der Politik Ariel Scharons mit der Apartheid-Politik stammt aus Israel selber. Die Mahnung der ADL, die auf dem Kongreß wiederholt wurde, man dürfe bei der Beurteilung Israels nicht zweierlei Maß anlegen, ist demagogisch. Israel besteht auf seiner Zugehörigkeit zur demokratischen Welt. Daher kann ihm, anders als Rußland oder China, kein Dispens vom demokratischen Wertekanon erteilt werden. Das wäre dann die wahre Doppelmoral, die den Westen insgesamt beschädigen würde. Deswegen, und nicht aus Antisemitismus, empfinden viele Europäer Unbehagen gegenüber der Politik Israels und wenden sich von ihm ab.

Die ADL und der Jüdische Weltkongreß, die der Berliner Tagung einen wesentlichen Stempel aufgedrückt haben, definieren sich dagegen klar als proisraelisch. Der gleichzeitige Berlin-Besuch von Präsident Moshe Katzav zeigte, daß den Regierenden Israels Gelegenheit gegeben werden sollte, die moralische Quarantäne zu durchbrechen und durch die Hintertür auf die europäische Bühne zurückzukehren.

Die Teilnahme von US-Außenminister Colin Powell und die Rede des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, der den Europäern die USA als Vorbild für das Verhältnis zu den Juden und zu Israel empfahl, offenbart einen vierten Grund, einen politisch-strategischen. Der US-amerikanische Politologe Norman Finkelstein hat in seinem Buch "Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird" (JF 13/01) dargestellt, wie die USA nach dem eindrucksvollen Sieg Israels im Sechs-Tage-Krieg 1967 dessen schlagkräftiges Potential für sich entdeckten. Für die jüdischen Eliten in die USA war das die Gelegenheit, "die Rolle der natürlichen Gesprächspartner für Amerikas neuesten strategischen Besitz" zu übernehmen und selbst in das politische Establishment Washingtons vorzudringen. Erst ab diesem Zeitpunkt wurde die umfassende "Erinnerung" an den Holocaust virulent, denn sie war geeignet, die innen- und außenpolitischen Bündnisse ideologisch sowohl zu unterfüttern als auch zu überhöhen.

Die "Erinnerung", die mit der permanenten Warnung vor einem neuen Holocaust einhergeht, soll Israel politisch und moralisch unangreifbar machen. Den USA, die sich zu ihrem mächtigsten Sachwalter aufgeschwungen haben, dient sie als moralische Ausflucht vor den dunklen Flecken der eigenen Geschichte, zur Externalisierung des Bösen - vorzugsweise nach Deutschland - und zur Begründung imperialer Ambitionen, die sich keineswegs nur militärisch äußern.

Erst unter diesem - tabuisierten - Gesichtspunkt gewinnt die "Berliner Erklärung", die einen internationalen Informationsaustausch über "antisemitische Vorfälle" fordert - in Sachen organisierter Kriminalität, Menschen- und Drogenhandel ist man davon meilenweit entfernt - doch noch eine echte politische Brisanz. Wie die Reden der deutschen Politiker in Berlin gezeigt haben, sind sie außerstande, diese Brisanz zu erkennen und auf sie zu reagieren. Um so mehr ist die Aufmerksamkeit jedes kritischen Bürgers gefordert.


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