© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/04 30. April 2004

Revitalisierung der Nation
von Lothar Penz

Mit dem Buch "Die Ethik des Erfolgs", erschienen im Econ Verlag, hat der ehemalige BDI-Präsident Hans Olaf Henkel einen aufschlußreichen Beitrag zur aktuellen Lage geliefert. Er setzt sich zunächst mit dem realen Erscheinungsbild der industriellen Gesellschaft im vereinten Deutschland auseinander, die aufgrund des fehlenden Gleichgewichts nationaler Verantwortung und sozialer Interessen in den Zustand einer lähmenden Stagnation übergegangen ist. Man spürt förmlich, wie Henkel den Kopf schüttelt, wenn er die traumatische Verdrängung nationaler Verantwortung und Interessen schildert, welche zur Korrumpierung des sozialen Gedankens in Deutschland geführt hat.

Der dominierende Begriff des Sozialen hat sich als Staatsziel infolgedessen tendenziell zu einer parasitären Anspruchsgesinnung gewandelt. Sie ist auch das Ergebnis einer vom "Neuen Liberalismus" der FDP 1971 mit den "Freiburger Thesen" in Gang gesetzten "Befreiung des Individuums". Darin manifestierten sich vor allem Ralf Dahrendorfs Ideen einer Konfliktgesellschaft, welche die Pluralität des Wettbewerbs sozialer Gruppen zum gesellschaftlichen Hauptmotiv gemacht hat. Die dadurch geförderte Egogesellschaft hat seitdem ihren synergetischen Zusammenhalt und ihre Leistungsmotivation weitgehend verloren. Der stilisierte FDP-Adler als liberale Willensbekundung zur Volkssouveränität verschwand seinerzeit aus den Plakaten dieser Partei. Die drei Punkte wurden zum Symbol eines Sinneswandel unter dem Slogan "Wir schneiden die alten Zöpfe ab". Tatsächlich jedoch wurde damit aus Opportunismus gegenüber den 68ern der nationale Lebensfaden der deutschen Demokratie durchtrennt.

Das verantwortungsbewußte Wir, das die Aufbaugeneration noch beseelte, ging völlig verloren. Ludwig Erhard könnte heute sein Wirtschaftskonzept nicht mehr durchsetzen. Seine Mahnung, unter dem Begriff "formierte Gesellschaft" die Anspruchsgesinnung abzufangen, ist wieder ganz aktuell. Die politische Klasse der Aufbauzeit besaß jedenfalls eine Klarheit darüber, wohin "soziale Gerechtigkeit" ohne nationale Verantwortung führen würde. Wenn die NS-Propaganda "Du bist nichts, dein Volk ist alles" falsch war, heißt das nicht, daß das genaue Gegenteil zum Guten führte.

Man studiere heute noch einmal Mayerhofers Betriebsverfassungs-Gesetz, das den permanenten Klassenkampf von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur Rechtsnorm erhoben hat. Gerade der Linksliberalismus spielte hier eine wichtigere Rolle als die radikale Linke.

Es gehört zu den gravierenden Denkfehlern der Nachkriegsgeschichte, wenn in der Öffentlichkeit immer noch eine besatzungskonforme Schlußfolgerung vorherrscht, die traditionell nicht in der Lage ist, zwischen Nationalismus und nationaler Verantwortung in der politischen Praxis zu unterscheiden. Henkel nennt diese traumatische Schlußfolgerung die "Erbsünde", die seiner Meinung nach "auf der Couch" geheilt werden muß.

Der Hang, auf Kosten anderer, notfalls betrügerisch, seine individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, ist nicht nur bei Schwarzarbeitern und Sozialschmarotzern festzustellen, sondern auch bei Managern und Vorständen.

Doch ist es nicht eher so, daß wir alle von der Couch herunter müssen, wo das Trauma wachgehalten wird? Man muß schon Bundeskanzler Schröder dankbar sein, wenn er am 8. Mai 2002 sich dort herunterbegeben hat, um mit Martin Walser über den Begriff der Nation zu diskutieren. Ein derartiges Gespräch hätte der Beginn der notwendigen Rekonstruktion einer leistungs- und lebensfähigen deutschen Republik unter den Bedingungen des sich verschärfenden, globalen Wettbewerb sein können. Denn nur auf einem von der politischen Klasse vorgelebten Gemeinsinn basiert letztlich die Leistungsbereitschaft des Staatsvolkes in einer Gesellschaft, wo nationale Verantwortung und soziale Gerechtigkeit sich die Waage halten und leistungsmotiviertes Arbeiten nicht als vermeidbares Übel diskriminiert wird.

Henkel hat völlig recht, wenn er die Heuchelei eines Großteils der politischen Klasse anprangert, die gegenüber Brüssel oder Washington sich auf nationale Interessen beruft, aber nach innen nicht in der Lage ist, diese durchzusetzen. Anstatt das Staatsvolk beispielgebend als Nation anzusprechen, wendet sich Bundespräsident Johannes Rau in seiner Neujahrsrede 2002 an "die Menschen in unserem Lande". Deutlicher kann die Absage der staatlichen Repräsentanz an die nationale Verantwortung eines zur liberalen Massengesellschaft gewordenen Staatsvolkes nicht ausfallen. Wo das isolierte Ich nicht mehr vom Wir zur Leistung und Verantwortung zielorientiert motiviert wird, ist auch der Abstieg der nationalen Ökonomie programmiert. Ihre moralische Ohnmacht in dieser existentiellen Frage sucht die regierende politische Klasse durch eine kraftlos gewordene Gesetzesflut zu kompensieren. Die Folge ist wiederum eine ausufernde Bürokratie, die in Wirklichkeit eine erneute Lähmung nach sich zieht. Gesetze als Ersatz für Entscheidungen werden irgendwann nicht mehr ernst genommen.

Henkel legt hier den Finger in diese Wunde, wenn er diese Paralyse des pluralistischen Gesellschaftssystems am "Aussitzen" von Kanzler Kohl sowie an der "ruhigen Hand" seines Nachfolgers festmacht. Wenn man diese Kritik in ihrer Konsequenz ernst nimmt, dann kann es nur heißen, daß wir einerseits unsere Republik national rekonstruieren müssen, andererseits aber zu einer nationalen Ökonomie neuen Typs gelangen, die auf den globalen Wettbewerb ausgerichtet ist. Wird diese grundlegende Reform unseres Staates an Haupt und Gliedern weiterhin vermieden, dann wird uns die Globalisierung ohne zentripetale Gegenkraft zentrifugal vernichten.

Denn es gehört nicht viel Beobachtungsgabe dazu, den Leistungsabfall in der atomisierten Gesellschaft des "eindimensionalen Liberalismus" als Gesamtphänomen festzustellen. Vor allem die Pisa-Studie hat die bundesdeutsche Insel der schuldbeladenen Seligen aufgeschreckt. Ausgerechnet den einzigen Rohstoff, den wir besitzen, haben wir größtenteils den 68er-Lehrern überlassen, die sich hauptsächlich der individuellen Selbstverwirklichung verpflichtet fühlen. Dem dominierenden Prinzip der Gleichheit fehlt das Prinzip der Brüderlichkeit, womit das Fundament der Freiheit untergraben wird.

Das Bildungssystem hat sich infolge des vorherrschenden Gleichheitsprinzip zu einem gleichgeschalteten Zug entwickelt, wo der langsamste Wagen die Geschwindigkeit der Gesamtheit bestimmt. Nicht nur die Gesamtschule als ideologische Anstalt des Gleichheitsgedankens hat zum Beispiel tendenziell verhindert, daß die unterschiedlichen Begabungen so zu fördern sind, daß der Gleichheitsgrundsatz sich sinngemäß auf die Gleichwertigkeit der an sich ungleichen Mitglieder einer solidarischen Gesellschaft bezieht. Henkel kritisiert mit Recht diesen gesellschaftlichen Extremismus, der die "Freiheitssphäre und den Wohlstand" der Gesellschaft bedroht und uns letztlich bei Orwells "Farm der Tiere" landen läßt.

Einzuwenden ist allerdings gegen seine Argumentation ein Hang, die Freiheitssphäre lediglich als Spielraum für das unternehmerisch handelnde Individuum aufzufassen. So fällt auf, daß Henkel den gesellschaftlichen Niedergang einseitig bei den Unter- und Mittelschichten fokussiert. Die entsprechenden Erscheinungen auf den Vorstandsetagen werden nicht weiter beleuchtet. Es macht sich gerade hier teilweise eine zentrifugale Freibeutergesinnung mit dem Argument des Globalisierungszwanges von Arbeit und Kapital breit, dem der strukturell und verfassungsrechtlich paralysierte Sozialstaat kein Paroli bieten kann. So haben technokratische Vorstände die Möglichkeit, über Insolvenzen, feindliche Übernahmen oder bei totalem Aktienstreubesitz ihr Unternehmen an der Börse dem global vagabundierenden Spekulationskapital oder der Selbstbedienung auszuliefern.

Daß diese Entwicklung in vielen Branchen bei den Belegschaften eine leistungsschwächende Irritation hervorruft, dürfte verständlich sein. Ihr zweiter Blick gehört dann immer dem Rettungsboot, weil ein derartiges Unternehmensschiff in der aufgewühlten See zunehmender Globalisierung irgendwann unterzugehen droht. Ein Beispiel dürfte der untergegangene Anlagenbauer Bacock sein, dessen Vorstandschef sich auf die schnell noch globalisierte Tochter HDW retten konnte.

Ein Staat, der sich aus dem Spiel der wirtschaftlichen Interessengruppen herauszuhalten hat, um lediglich mit Gesetzen jene "Rahmenbedingungen" zu erlassen, die er bei Regelverstößen nicht einmal als Schiedsrichter über eine entsprechende Gerichtsbarkeit ahnden darf, entspringt weitgehend dem Denken Dahrendorfs. Dieses "catch as catch can" wollte er Ende der achtziger Jahre sogar noch verschärfen, als er in der Wochenzeitung Die Zeit das Ende des "Sozialdemokratismus" verkündete. Auch die pluralistischen Strukturen des Sozialstaats sollten also zugunsten des ökonomisch-autonom handelnden Individuums entmachtet werden, ohne daß der Staat seine erforderliche Schiedsrichter- und Gestaltungsfunktion zurückerhält.

Strenggenommen kritisiert Henkel einerseits die leistungsschwächenden und innovationsverhindernden Einstellungen eines gesellschaftlich überregulierten Systems, andererseits will er uns mit dem Heilmittel einer ideologisch überhöhten Globalisierung aus diesem Sumpf retten.

So wird zwangsläufig seine Globalisierungsidee unglaubwürdig, wenn er mit seinem bestimmenden Credo die Aufklärung und die Menschenrechte zur alles überragenden Zukunftsvision macht. Damit zeigt sich Henkel einerseits als hervorragender praktischer Kritiker unseres staatlich-gesellschaftlichen Systems unter der Dominanz der "Erbsünde", andererseits ist er jedoch kritiklos gegenüber einer dogmatisierten Aufklärung, die an unserer Misere mitschuldig ist. Auch die Rede von Menschenrechten wird destruktiv, wenn sie das Gegengewicht der Menschenpflichten entbehrt und ein Unbestimmtes als Bestimmung fungiert.

Hans Olaf Henkel zeigt sich einerseits als überzeugender Kritiker unseres gesellschaftlichen Systems, andererseits hängt er aber an den weltanschau-lichen Voraussetzungen für den kurz zuvor kritisierten Verfall.

Die Anfänge einer zentrifugal auseinander driftenden Wirtschaftsentwicklung schildert Henkel hinreichend. Der deutsche Textilfabrikant, der in Sri Lanka mit Billiglöhnen sein ausgewandertes Unternehmen rettet, um auf dem deutschen Markt mit einem preiswerten Angebot die wachsende Zahl der Arbeitslosen zu beglücken, erweist sich als eine Rechnung ohne den Wirt. Denn eine auf die Globalisierung ausgerichtete nationale Ökonomie beläßt in jedem Einzelfall die industrielle Basis des Unternehmens in Deutschland, um sich von hier aus mit seiner innovativen Kompetenz und seinen Qualitätsmaßstäben dem globalen Wettbewerb auf fremden Märkten nach dem Prinzip der "verlängerten Werkbank" auch produzierend zu stellen. Dieser Grundsatz ist jedoch nur dann nachhaltig tragfähig, wenn die industrielle Gesamtbasis eines bereits global operierenden Unternehmens sich als "Profitcenter" im globalen Wettbewerb versteht. Denn die Kapitalseite wird immer dann auf Produktionseinstellungen oder -verlagerungen eines Unternehmens drängen, wenn seine Produktivität, Innovativität, Qualität und Zuverlässigkeit dem internationalen Vergleich bei andauernder Gewinnminimierung nicht mehr standhalten.

Um dem sozialen Abstieg insbesondere durch Arbeitslosigkeit zu entgehen, bleibt einer der Globalisierung ausgesetzten Arbeitsbevölkerung nur der Weg, sich als Leistungsgesellschaft solidarisch zu reorganisieren, um gesellschaftlich im Wettbewerb der Nationen bestehen zu können.

Das bedeutet im Klartext: Auch die Struktur der nationalen Ökonomie muß vom Staat auf eine gesicherte Basis gestellt werden, damit sie einerseits sich dem globalen Wettbewerb stellen kann, andererseits vor dem zerstörerischen Zugriff des internationalen Spekulationskapital geschützt wird. Es genügt nicht mehr, sich mit der nostalgischen Formel "soziale Marktwirtschaft" aus der Verantwortung struktureller Neuordnung zu stehlen. Der Schlüssel ist der radikale Abschied von der hedonistischen Individualgesellschaft. Denn Globalisierung bedeutet daher paradoxerweise auch Rückkehr zu einer nationalen Emanzipation im Sinne solidargemeinschaftlicher Verantwortung, damit wir nicht im Extremfall auf den sozialen Standard eines chinesischen Kulis zurückfallen.

Henkel kommt zum Schluß seiner Argumentation auf den entscheidenden Punkt. Ein Konvent muß das "reengi-neering" von Staat und Gesellschaft mit dem Ziel einer neuen Verfassung gemäß Artikel 146 Grundgesetz systematisch - wie seinerzeit auf Herrenchiemsee - in Angriff nehmen. Doch Henkel läßt völlig offen, welche Repräsentanten dieses "reengineering" durchführen sollen. Sollten es etwa die kritisierten "relevanten Kräfte der Gesellschaft" sein? Wir können sicher sein, daß dann alles beim Alten bliebe. Wahrscheinlich bleibt nichts anderes übrig, als daß erst ein noch größeres Desaster das Staatsvolk zwingt, seine Rolle als Souverän in dieser existentiellen Frage der deutschen Nation wahrzunehmen.

So wird Henkels richtige Analyse unserer Gesellschaftssituation unter dem Diktat der verinnerlichten Erbsünde durch seine Vorschläge aus der Mottenkiste des "eindimensionalen Liberalismus" leider unnötig belastet. Denn wir sind in der Tat an einem geschichtlichen Punkt angelangt, wo eine Erneuerung der Republik mit der Reaktivierung nationaler Kräfte einhergehen muß, damit Deutschland im globalen Wettbewerb seine Stellung behaupten kann.

 

Lothar Penz, Jahrgang 1931, ist Diplom-Ingenieur und selbständiger Unternehmensberater.

Foto: Der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel trocknet am 11. März 2003 in einem Berliner Restaurant ein von ihm gespültes Glas ab: Wer Geschirr abwäscht oder Klavier spielt, bekommt in dem Lokal "Lindenlife" auf ein "Reform-Menü" zwei Euro Rabatt. Mit der Aktion will die Gastronomie der Politik vorauseilen und ein Beispiel für Reformgeist geben.


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