© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/04 30. April 2004

Eine Herausforderung für Deutschland
EU-Erweiterung I: Ökonomische Vorteile, aber beschäftigungspolitisch problematisch / Druck auf Steuer- und Sozialsysteme
Bernd-Thomas Ramb

Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechei, die Slowakei, Ungarn und Slowenien - die wirtschaftlich relevanten Beitrittsländer zur Europäischen Union liegen im Osten Deutschlands, in nahezu unmittelbarer Nachbarschaft. Durch ihre Integration in den EU-Binnenmarkt wird sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Verwaltungswirtschaften in diesen Ländern und der Öffnung des Eisernen Vorhangs ein zweites Mal drastisch ändern. Teilweise haben sich die Auswirkungen in den letzten Jahren bereits abgezeichnet, insbesondere bei der Zunahme des Außenhandels.

Schon jetzt nehmen diese Länder insgesamt gesehen nach Frankreich und den USA den dritten Rang unter den Exportpartnern Deutschlands ein. Gleichzeitig wurde die Produktion deutscher Produkte in diese Länder verlagert. Allen voran steht die deutsche Automobilindustrie, die immer größere Anteile ihrer Zulieferprodukte in die Niedriglohnländer umgesiedelt.

Diese Entwicklung wird sich verstärkt fortsetzen. Die Abschaffung von Grenzkontrollen und vor allem die Streichung der Handelszölle führen zu einer weiteren Intensivierung des Warenaustausches zwischen den alten und den neuen EU-Ländern. Davon profitieren beide Seiten, wenn auch im unterschiedlichen Maße. Im alten EU-Bereich sind an erster Stelle die ehemaligen Anrainerstaaten die Gewinner: im Norden Schweden und Finnland, im Süden Italien, in der Mitte und am meisten Deutschland und Österreich. Als Verlierer könnten sich die EU-Staaten ansehen, die bislang eine relativ intensive Handelsbeziehung zu Deutschland aufwiesen, nun aber in eine - nicht nur geographische - Randlage geraten, wie beispielsweise Portugal, Griechenland, Spanien und Irland.

Während die ökonomischen Vorteile des intensiveren Warenaustausches weitgehend unkontrovers anerkannt werden, gehen die Betrachtungen der Beschäftigungswirkungen von unterschiedlichen Prognosen aus. Unwahrscheinlich ist das Auftreten großer "Völkerwanderungen" von Arbeitskräften aus Mittel- und Osteuropa. Ihr aktueller Anteil beträgt in Deutschland gerade einmal 0,5 Prozent, in Österreich knapp 1,1 Prozent der Beschäftigten. Forschungsinstitute rechnen zwar mit einem Anstieg der Zuwanderung in den nächsten beiden Jahren um etwa eine halbe Millionen, so daß die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Mittel- und Osteuropäer aus den zehn Beitrittsländer auf 2,5 Millionen steigt, angesichts der Zahl der bereits heute aus anderen Ländern in Deutschland lebenden Ausländer stellt dies jedoch eine recht geringe Größe dar.

Aus beschäftigungspolitischer Sicht problematischer ist die Verlagerung von Arbeitsplätzen in die neuen EU-Staaten. Dabei gehen zweifellos Arbeitsplätze in Deutschland verloren. Andererseits bleiben durch diese Maßnahme auch Betriebe existenzfähig und damit zwar weniger, aber immerhin doch wichtige Arbeitsplätze in Deutschland erhalten. Ob diese Arbeitsplätze ebenfalls verlagert werden, hängt von der Effizienz der verbliebenen Mitarbeiter ab. Das entscheidet nicht zuletzt die Qualität ihrer Arbeitskraft. Wenn jedoch beispielsweise der deutsche Ingenieur schlechtere Leistungen erbringt als der tschechische oder bei gleicher Leistung höhere Lohnkosten verursacht, ist auch sein Arbeitsplatz gefährdet.

Daraus folgen zwei bedeutsame Herausforderungen für die deutschen Arbeitnehmer. Zum ersten wird durch die Osterweiterung das deutsche Lohnniveau unter Druck gesetzt. Wie in einem System kommunizierender Röhren muß das deutsche Niveau zwangsläufig sinken, während das der Oststaaten etwas ansteigen wird. Eine gewisse Hemmschwelle vor der totalen Nivellierung wird sicher die Entfernung zwischen Arbeitsplatz und Produktionsstätte beziehungsweise Unternehmenszentrale bilden. Mögliche sprachliche Barrieren dürften die lernwilligen Osteuropäer schnellstens beseitigen. Zum zweiten müssen die deutschen Arbeitnehmer ihren Produktivitätsfortschritt erhalten, nach Möglichkeit sogar ausbauen, um ihren Arbeitsplatz zu sichern. Auch diesbezüglich ist zu beobachten, daß die osteuropäischen Stellensuchenden - gerade im Bildungsbereich - zu den Deutschen nicht nur aufschließen, sondern sie inzwischen vielfach überholen.

Die Senkung der Lohnkosten in Deutschland ist nicht nur von der Bereitschaft der Beschäftigten abhängig, auf verfügbares Einkommen zu verzichten. Auch der Staat als Urheber der extremen deutschen Lohnnebenkosten gerät unter Druck. Die Lohnkostenunterschiede zwischen Deutschland und den osteuropäischen Staaten messen die Unternehmen an den Bruttolohnkosten. Die staatlich verordneten Abgaben sind bei den EU-Neustaaten wesentlich niedriger als in Deutschland.

Hinzu kommt als weiteres Konkurrenzelement auf der staatlichen Ebene die günstigere Unternehmensbesteuerung in den Oststaaten, ein Argument mehr für die Unternehmensflucht aus Deutschland und die Verlagerung der Betriebe in den Osten. Hier ist die deutsche Politik massiv gefordert, im Wettbewerbsdruck der europäischen Steuersysteme zu bestehen. Erste hilflose Reaktionen, wie die Forderung nach einer EU-weit gültigen Mindestbesteuerung der Unternehmen, werden auf Dauer kaum weiterhelfen. Gleichzeitig wird das überbordete deutsche Sozialversicherungssystem in den europäischen Wettbewerbskampf geworfen.

Spannend dürften die Verteilungskämpfe um die Subventionstöpfe der EU werden. Subventionsverwöhnte Länder wie Spanien, Irland, Portugal, aber auch Frankreich, müssen künftig spürbare Einschnitte in den Transferleistungen hinnehmen, wenn die EU noch finanzierbar bleiben soll. Parallel zu den Subventionsreformen sind institutionelle Reformen, insbesondere die Reform der politischen Vertretungen unvermeidbar. Der Streit um die europäische Verfassung signalisiert bereits die wachsende Problematik einer immer größer werdenden EU. Hält die Politik diesem Druck nicht stand und erweist sich die EU als reformunfähig, ist ihr Scheitern vorprogrammiert.

Bis zu einem möglichen Zerfall der EU hat Deutschland die heilsam erzwungene Chance zu inneren Reformen: weniger Staatsbevormundung und stärkere Reaktivierung der marktwirtschaftlichen Kräfte, eigenverantwortliches Handeln der Bürger, nicht nur zur Sicherung der materiellen Versorgung, sondern auch zur Verbesserung des dazu erforderlichen Bildungskapitals. An dieser Herausforderung können die Deutschen scheitern oder genesen.


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