© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/04 23. April 2004

Familienpolitik statt Zuwanderung
Innenpolitik: Die Masseneinwanderung kann weder die demographische Lücke schließen noch den Fachkräftemangel beheben
Björn Schumacher

Ende 2002 wurde das "Zuwanderungsbegrenzungsgesetz", eigentlich ein rot-grüner Migrationsbeschleuniger, wegen eines Verfahrensfehlers vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gestoppt. Einwanderung und Aufenthaltsstatus von Nicht-EU-Ausländern sind aber inzwischen längst wieder Gegenstand des parlamentarischen Ringens.

Leicht modifiziert könnten rot-grüne Planspiele durch ein neues Bundesgesetz, möglicherweise auch durch EU-Richtlinien zur Geltung kommen. Das betrifft neben der Asyl- auch die Arbeitsmigration. Parteiübergreifend wird die Theorie vom "Einwanderungsbedarf" wohlwollend geprüft. Eine eher konzern- als mittelstandsorientierte FDP signalisiert lebhafte Zustimmung; Christdemokraten lassen erkennen, daß Einwanderungsbeschränkung kein "konservatives Tafelsilber" (Jörg Schönbohm) ist. Im Wahlherbst 2002 fertigte CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer sie als "1b-Thema" ab. Demographische und volkswirtschaftliche Fragen drängen sich auf, deren Beantwortung die ideologischen Züge deutscher Immigrationsdebatten enthüllt.

Sozialverträgliche Einwanderung kann zwar die Bevölkerungszahl eine Zeitlang hochhalten, nicht aber die "demographische Lücke" schließen oder richtunggebend verkleinern. Weder der unvermindert starke Familiennachzug aus der Türkei noch die von Wirtschaftslobbyisten ersehnten IT-Experten und andere "Global Players" verheißen Rettung. Das ganze erinnert an den Versuch, ein leckes Faß mit Flüssigkeit zu füllen: Je mehr man oben hineinschüttet, desto mehr läuft unten wieder heraus. Demographische Balance setzt - im großen und ganzen - eine den Bestand sichernde Reproduktionsrate von 2,1 lebendgeborenen Kindern pro Frau voraus.

Alle Immigrantenkollektive übernehmen jedoch Deutschlands Niedrigrate von 1,4 oder nähern sich ihr beträchtlich an. So bringen Frauen mit Migrationshintergrund nur durchschnittlich 1,9 Kinder zur Welt, während die Geburtenrate beispielsweise in der Gesamt-Türkei bei 2,5 und in den ländlichen Regionen Anatoliens - Heimat der meisten Einwanderer - noch erheblich höher liegt (Quellen: Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften "Eurostat", Die soziale Lage in der Europäischen Union 2003; Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende, Berlin 2001).

Wenn der drohende Bevölkerungsschwund mit den Mitteln des Rechts dauerhaft gebremst werden kann, dann nur sehr langfristig durch ein Paket pronatalistischer Arbeits-, Steuer- und Sozialgesetze. Junge Frauen (und Männer) müssen endlich motiviert werden, ihren heimlichen Kinderwunsch nicht länger zugunsten beruflicher Lebensentwürfe zurückzustellen. Daher sollten - nach dem Vorbild des Schwerbehindertenrechts - arbeitsuchende Männer und Frauen mit Nachwuchs gegenüber kinderlosen Mitbewerbern privilegiert werden. Zudem müssen neue Steuerklassen nach Kinderzahl her: als Fortentwicklung des Ehegatten- in ein die Anzahl der Kinder einbeziehendes "Familiensplitting".

Auch eine abgestufte Kürzung der Rentenansprüche (und/oder abgestufte Steigerung der Beitragssätze) von kinderlosen Unverheirateten sowie von Doppelverdienern mit keinem oder nur einem Kind darf nicht länger tabuisiert werden. Statt dessen fördert eine SPD-geführte Bundesregierung lieber gleichgeschlechtliche Paare und peilt "Lufthoheit" über die immer spärlicheren Kinderbetten deutscher Familien an. "Populus moritur et ridet" ("das Volk stirbt und lacht dabei", Salvanius): alter deutscher Sonderweg in einem runderneuerten Gewand!

Auch der Arbeitsmarkt liefert kaum Anhaltspunkte für akuten Immigrationsbedarf. Fünf Millionen Arbeitslose aus verschiedenen Sparten: Da können nur wenige Firmen - zeitlich begrenzt - auf weitere Nicht-EU-Ausländer angewiesen sein. Auch wegen der Unzuverlässigkeit von Langzeitprognosen reichen Greencard-Engagements und Saison-Arbeitsverträge regelmäßig aus.

Über unbefristete, von konkreter Nachfrage abgekoppelte und nur mit Hilfe eines "Punktesystems" kontingentierte Aufenthaltsrechte für "Existenzgründer", "hochqualifizierte Einwanderer" und "Spitzenkräfte aus der Wirtschaft" (so die idealisierende Diktion der ehemaligen Süssmuth-Kommission) freuen sich ausbildungs- und umschulungsmüde Unternehmen. Solche Pläne dürfen bestenfalls eine Option für künftige Unwägbarkeiten sein. Auch dann benötigen wir aber kaum Nicht-EU-Ausländer. Für Bürger osteuropäischer EU-Beitrittsstaaten darf das Recht auf Arbeitnehmer-Freizügigkeit maximal bis zum 30. April 2011 ausgesetzt werden. Danach werden Millionen Arbeitskräfte aus jenen Ländern nach Deutschland kommen können.

Ebensowenig Einwanderungsbedarf läßt sich aus "leeren Sozialkassen" herleiten. Zwar versprechen arbeitsaktive Immigranten spontane Abhilfe. Bei unbefristetem Aufenthalt werden aber sie und ihre nachziehenden Angehörigen eines Tages die Rentenversicherung belasten - und zuvor vielleicht schon die Arbeitslosenkasse. Optimistische Prognosen der Einwanderungsbefürworter bleiben vage. Sie beruhen auf der Hypothese einer lang andauernden Belebung der Beschäftigungssituation.

Diese hängt freilich von der Nachfrage nach Bedarfsgütern und damit sehr maßgeblich von einem Anstieg der Geburtenzahlen ab! Auf derart erfreuliche Entwicklungen sollte eine selbstbewußte Nation nicht gleich mit Einwanderungsangeboten an fremde Menschen reagieren. Vorrang hat die Aktivierung eigener Ressourcen: Steigerung der Produktivität durch eine stufenweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit!

Aktuell schrumpfen Sozialkassen vor allem durch den Anstieg des durchschnittlichen Lebenshöchstalters. Hier drängt sich die gleiche Lösung auf: verlängerte Arbeitszeiten statt neuer Masseneinwanderung mit den altbekannten Risiken und Nebenwirkungen. Zudem braucht Deutschland mehr Gemeinsinn und weniger hedonistische Konsumorientierung. Pflegeversicherungskosten könnten durch familiäre Solidarität gedämpft werden: durch die Aufnahme nicht mehr erwerbstätiger Menschen im Haushalt der eigenen Kinder.

Auch jenseits des ökonomischen Kalküls stellen sich bohrende Fragen, etwa diejenige nach der ethischen Begründbarkeit massenhafter Einwanderung. Sie hat auf nationaler wie internationaler Ebene eine beachtliche Dimension. Die nationale verweist auf das Demokratieprinzip. Geht es doch um eine Neudefinition der Bundesrepublik als Einwanderungsland mit atemberaubenden ethnokulturellen Umwälzungen. Soll das deutsche Volk dabei einfach übergangen werden? Müßte das künftige "Zuwanderungsgesetz" - ebenso wie ein als Migrationsturbo fungierender türkischer EU-Beitritt - unter reifen, aufgeklärten Demokraten nicht zwingend an ein Plebiszit gebunden sein: an eine Abstimmung der umfassend über alle Einwanderungsaspekte informierten Bürger?

Parallelgesellschaften mahnen zur Umkehr

Die internationale Dimension verweist auf die Kehrseite des angeblichen Einwanderungsbedarfs: Gibt es - abgesehen von der Türkei - in westorientierten Nicht-EU-Staaten demographisch und ökonomisch belegbaren "Auswanderungsbedarf"? Nur eine solche Korrelation könnte deutschen Immigrationsprojekten den Anschein ethischer Legitimität verleihen. Danach sieht es freilich nicht aus. Insbesondere Schwellenländern drohen die fortgesetzte Abwerbung begehrter Arbeitnehmereliten ("Computer-Inder") und damit gewaltige, als "Brain-Drain-Effekt" bekannte wirtschaftliche Verwerfungen.

Argumente aus den Bereichen Umwelt- und Innenpolitik entlarven weitere Rationalitätsmängel deutscher Einwanderungsstrategien. Zum einen wäre (allmähliche) "demographische Lückenbildung" im übervölkerten Deutschland mit seinem ungezügelten Energieverbrauch kein Horrorszenario. Zum anderen leidet unsere Gesellschaft nach mehreren Migrationsschüben aus der ehemaligen Sowjetunion und den muslimisch-patriarchalischen Regionen des Orients unter begrenzter Resorptionsfähigkeit. Parallelgesellschaften in deutschen Städten, dramatische Einbrüche des schulischen Niveaus und beträchtliche, allenfalls in grün-alternativen Milieus geleugnete Bedrohungen der inneren Sicherheit mahnen zur sofortigen Umkehr.

Der Zauber orientalischer Welten ändert daran nichts. Zu den Maximen vernünftiger Migrationspolitik gehören Zurückhaltung und die Bewahrung eines Phänomens, das aufgeklärte Konservative "nationale Identität" nennen.


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