© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/04 23. April 2004

Irak-Konflikt
"Wir sind doch keine Idioten!"
Peter Scholl-Latour

Die breite Öffentlichkeit in Amerika und Europa hat lange gebraucht, ehe sie sich der traurigen Realität im Irak bewußt geworden ist. Dabei ist mit dem jetzigen Grad der Auseinandersetzung noch nicht einmal jener Höhepunkt erreicht, der den Amerikanern bei Fortsetzung ihrer planlosen Politik im Irak vermutlich noch bevorsteht: der Großaufstand aller Schiiten im Lande. Maßnahmen wie der amerikanische Tot-oder-lebendig-Steckbrief gegen Muqtada-es-Sadr oder die Absage beziehungsweise Verschiebung der angekündigten freien Wahlen, deren Durchführung sich die USA wohl nicht werden leisten können, sind Zündstoff für einen allgemeinen schiitischen Aufstand. Sollte US-General Ricardo Sanchez obendrein beschließen, mit Panzern in den heiligen Stätten Nadschaf und Kerbala einzurücken, könnte das die Explosion auslösen.

Was die amerikanischen Maßnahmen tatsächlich bewirken, wird klar, wenn man bedenkt, daß zum Beispiel es-Sadr, der zuvor selbst bei der Mehrheit der Schiiten höchst umstritten war, durch die Reaktion der Amerikaner in den Augen seiner Landsleute enorm an Statur gewonnen hat, fast vergleichbar mit dem Phänomen Osama bin Laden.

Derzeit macht erneut das Wort von Amerikas "zweitem Vietnam" die Runde. In vieler Hinsicht ist dieser Vergleich allzu simpel. Ähnlich wie in Ostasien aber könnten die USA, ohne eine einzige militärische Niederlage zu erleiden, mit ihrer Unternehmung im Irak total scheitern.

Welchen Einfluß das Irak-Engagement auf die US-Präsidentschaftswahlen haben wird, ist noch unklar. Bislang sagen die Experten, die Wahlen würden nicht auf dem Gebiet der Außenpolitik entschieden. Aber auch ein Präsident Kerry könnte nicht einfach seine Truppen abziehen. Selbst er wird ein Arrangement treffen müssen, das für die USA zwangsläufig unbefriedigend wäre. Der Ruf nach Einbeziehung von Uno und Nato würde unter Kerry lauter werden. Die Gefahr ist real, daß sich Deutschland doch noch in diesen Konflikt verwickeln läßt, zumal wenn es 2006 zu einem Regierungswechsel in Berlin käme.

Spanien holt derzeit seine Truppen heim. Dem neuen Ministerpräsidenten Zapatero wird vorgeworfen, dem Terror nachgegeben zu haben. Die wirkliche Situation wird jedoch durch ein Wahlkampfplakat illustriert. Mit Bezug auf die bewußte Irreführung der Öffentlichkeit durch seinen Amtsvorgänger Aznar stand dort zu lesen: "Wir sind doch keine Idioten!" Ähnliches könnten auch die übrigen Europäer ihren Regierungen vorhalten, sollten diese die gezielte Irreführung durch die Bush-Administration widerspruchslos hinnehmen.

"Kampf gegen den Terror" - man mag die Parole kaum noch hören! Offenbar wurde immer noch nicht begriffen, daß der Terror eine Form der Kriegführung ist: Der Westen hat es mit einer umfassenden islamischen Revolution zu tun, die sich des Terrors - der Waffe der Schwachen - bedient. Schon aufgrund ihrer geographischen Lage müssen die Europäer dazu übergehen, ihre Verteidigung selbständig zu organisieren. Mit moralischer Empörung und starken Sprüchen ist es da nicht getan.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour, 80, ist Journalist, Buchautor und Kriegsreporter in den Krisenregionen der Welt. Zuletzt schrieb er in JF 36/03 den Beitrag "Die Mutter aller Lügen", wo er vor der Rolle Muqtada-es-Sadrs und einem drohenden Großaufstand der Schiiten im Irak warnte.


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