© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/04 16. April 2004

Staatsmacht ohne Volk
Die Herrschaft des "Fürsten Putin" mit den Augen Machiavellis gesehen
Oliver Busch

Seit der Auflösung der Sowjetunion sind mehr als ein Dutzend Ausgaben der Schriften Niccolò Machiavellis auf dem russischen Buchmarkt erschienen. Ein vergleichbares Interesse an diesem politischen Denker der frühen Neuzeit ist in keinem anderen osteuropäischen Land zu registrieren.

Manfred Sapper, Chefredakteur von Osteuropa, dem dieses Rezeptionsphänomen aufgefallen ist (Heft 3/04), hat auch bemerkt, daß andere Klassiker der politischen Philosophie, die liberalen Urväter John Locke oder der Baron Montesquieu etwa, geschweige denn der Radikaldemokrat Rousseau, sich keiner vergleichbaren Beliebtheit erfreuen. Was wohl daran liege, daß diese Denker über recht ausgeprägte Vorstellungen von der Kontrolle staatlicher Gewalt durch "Gewaltenteilung, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit" verfügten. Also lautet Sappers messerscharfer, das Bewußtsein der russischen Leserschaft auf ihr postkommunistisches Sein zurückführender Schluß: Machiavelli ist der idealtypische Denker für die Untertanen des "Fürsten" Putin. Machiavellis "Il Principe" spiegele eben nicht nur den florentinischen Politdschungel zu Renaissancezeiten wider, es sei auch für die gesellschaftlichen Realitäten des Putin-Autokratismus, der "Staatsmacht ohne Volk", wie sie im selben Osteuropa-Heft der Bochumer Slawist Karl Eimermacher nennt, von hohem Wiedererkennungswert. "Denn Machiavellis Denken entspringt ähnlichen Umständen und kreist um dieselben Fragen, mit denen Rußland seit anderthalb Jahrzehnten konfrontiert ist.

Niccolò Machiavellis politische Theorie ist eine Krisentheorie, entstanden vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Krise von Florenz. Die 'Krise' ist auch die Norm für die spät- und postsowjetischen Gesellschaften. Dem Niedergang der toskanischen Metropole entspricht der Zusammenbruch der Sowjetunion und Rußlands Abstieg aus der ersten Liga der global players." Zu fragen sei mithin, ob Putin den Ansprüchen Machiavellis an einen politischen Krisenmanager gerecht werde.

Auf den "mündigen Bürger" habe Putin nie Wert gelegt

Auf den ersten Blick schon, zumal es dem Florentiner auf Effizienz, auf Lösungskompetenz statt auf moralische Korrektheit ankomme. Denn die Leistungsbilanz des Moskauer Autokraten falle nach der widersprüchlichen Politik der Jelzin-Ära nicht schlecht aus. Das gelte außenpolitisch, wo Rußland nach dem 11. September 2001 wieder ins Spiel gekommen sei, aber primär ökonomisch, da steigende Öl- und die daran gekoppelten Gaspreise dem Riesenreich eine relative Stabilität beschert hätten. Also Glückwünsche aus Florenz in den Kreml?

So einfach sei es nicht, befindet Sapper. Denn Machiavelli sei eigentlich gar kein Machiavellist gewesen. Nicht zufällig habe Stalin 1934, kurz vor dem "Großen Terror", die erste russische Ausgabe seiner Werke beschlagnahmen und einstampfen lassen. Machiavelli fordere vom Staatsmann eben doch nicht nur moralisch neutrale Effizienz. Ihm gehe es um die dauerhaften Grundlagen des Gemeinwesens. Die seien aber ohne "Bürgerbeteiligung", ohne Einbindung und Integration aller gesellschaftlichen Gruppen in den Prozeß der Entscheidungsfindung nicht zu haben. Unter diesem Aspekt personifiziere Putin nicht Machiavellis Idealtyp. Sein Regime habe Rußland nämlich wirtschaftlich und sozial tief gespalten. Auf den "mündigen Bürger" oder Institutionen der "Zivilgesellschaft", ein funktionierendes Parteiensystem und ein starkes Parlament, habe Putin mitsamt seiner "Kreml-Entourage" nie Wert gelegt. Mit der bescheidenden wirtschaftlichen Stabilität werde es vorbei sein, wenn es nicht gelinge, das "Glück" der hohen Preise am Weltenergiemarkt zu verstetigen, also die dramatische Spaltung zwischen den superreichen Profiteuren des fragilen Aufschwungs und den deklassierten Massen zu überwinden.

Unter dem Diktat der "Öl-, Gas- und Nuklearlobby" könnte Rußlands Krise bald wieder offen ausbrechen. Zumal Putin für Rußlands Wirtschaft kein breiteres Fundament geschaffen hat. Noch immer erwirtschafte die einstige Supermacht nur 2, 4 Prozent am globalen Bruttoinlandsprodukt, sei also immer noch ein "Obervolta mit Raketen" und werde selbst von China mit 12,5 Prozent locker überrundet. In Machiavellis Urteil könne Putin nur bestehen, wenn er der augenblicklich halbwegs günstigen Lage Dauer verleihe. Dann müsse er aber die ungelöste soziale Frage in Rußland angehen und die Bedingungen dafür schaffen, "Herrschaft und Wohlstand zu demokratisieren".


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