© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/04 16. April 2004

Die Angst des Historikers vor historischen Quellen
Helmut Kohls Klage gegen die Offenlegung der Stasi-Akten behindert die Aufarbeitung eines wichtigen Teils der DDR-Geschichte
Detlef Kühn

Der Prozeß, den Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl gegen die Behörde "Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" (BUSt) wegen der Herausgabe ihn betreffender Unterlagen angestrengt und gewonnen hat, hatte schwerwiegende Folgen: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz mußte novelliert werden. In der Zwischenzeit kam die externe Forschung, die Arbeit von Journalisten und Wissenschaftlern außerhalb der Behörde mit deren Unterlagen, soweit sie Personen der Zeitgeschichte betrafen, weitgehend zum Erliegen. Bis heute ist bei den Sachbearbeitern eine Verunsicherung zu spüren, inwieweit sie externe Forscher bei ihrer Arbeit unterstützen dürfen. Dazu trägt der Umstand bei, daß Kohl erneut gegen die novellierte Fassung des Gesetzes auf dem Klagewege vorgeht.

Die hier anzuzeigende Zwischenbilanz der Öffnung der Stasi-Akten nach 1990 versucht den negativen Folgen dieser Entwicklung entgegenzutreten. Man kann das Buch, dessen 16 Beiträge teilweise auf einem Seminar der Akademie für politische Bildung in Tutzing und der Abteilung Bildung und Forschung der BUSt beruhen, zumindest als offiziös bezeichnen, da der Herausgeber Siegfried Suckut der Leiter dieser Abteilung ist. Seine vier Teile beschäftigen sich mit der Geschichte der Aktenöffnung, der Klage Kohls und ihren juristischen Folgen, sowie der Repression des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Innern der DDR, seiner "Westarbeit" und der Bedeutung der Stasi-Forschung für die Zeitgeschichte.

Wenn auch die Beiträge des Buches von unterschiedlichem Gewicht und nicht immer hoher Qualität sind, ist doch der Erkenntnisgewinn erheblich. Wo sonst kann man in dieser Eindeutigkeit lesen, daß in der alten Bundesrepublik die Wahrnehmung und Analyse des Sicherheits- und Militärapparates der DDR "völlig unzureichend" war, weil "nahezu als einziger Karl-Wilhelm Fricke" regelmäßig darüber publizierte, dem - muß man hinzufügen - sein Ruf in der DDR-Führung egal war. Und wer weiß schon, daß die Gestapo des Dritten Reiches 1944 "einschließlich aller besetzten Gebiete etwas mehr als 31.000 Mitarbeiter" zur Verfügung hatte, während es die kleine DDR im Oktober 1989 auf genau 91.015 hauptamtliche MfS-Mitarbeiter zur Erfüllung ihrer tschekistischen Aufgaben brachte. Auf 180 DDR-Bürger kam ein hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter. Selbst der KGB der Sowjetunion benötigte nur einen zur Überwachung von 600 Sowjetbürgern (in Polen war das Verhältnis 1:1.500, in der CSSR 1:870).

Hervorzuheben ist der Bericht des BUSt-Mitarbeiters Helmut Müller-Enbergs über die Erforschung der Westarbeit des MfS, in dem unter anderem der aktuelle Stand der Nutzung der von den Amerikanern übergebenen "Rosenholz"-Mikrofilmkopien dargestellt wird, deren Geheim-Einstufung nunmehr aufgehoben ist. Die oft gestellte Frage, wie viele Westagenten die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) und die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II im Laufe der Zeit im Einsatz hatten, kann Müller-Enbergs noch nicht abschließend beantworten. Weitere Forschungen werden genauere Ergebnisse erbringen, wobei schon jetzt feststeht, daß die Wirtschaftsspionage mit 39 Prozent der zuletzt festgestellten "Objektquellen" sowohl quantitativ als auch qualitativ von besonderer Bedeutung war. Müller-Enbergs warnt davor, den Stellenwert der politischen Spionage der HVA zu hoch zu veranschlagen. Allerdings muß man auch hier hinzufügen, daß es der DDR-Führung angesichts eines nach 1968 zunehmend von "links" aus der antinationalen Richtung wehenden Zeitgeistes auch ohne sie gelang, auf die Entwicklung im deutschlandpolitischen Bereich Einfluß zu nehmen.

Zu denken gibt die Mitteilung Müller-Enbergs, der ehemalige Auswerter der HVA Heinz Busch habe schon 2001 eine fundierte Analyse der Militärspionage der DDR und ihrer inoffiziellen Akteure in der Bundesrepublik verfaßt, für die sich bisher noch kein Verlag habe finden lassen. Da mit Oberst Joachim Krase immerhin der Vertreter des Amtschefs des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) zu diesen Akteuren gehörte, kann man verstehen, daß eine Veröffentlichung manche Peinlichkeit enthalten würde.

Die Herausgeber wünschen ihrem Werk eine Berücksichtigung in der politischen Bildung. Dann muß, ergänzend zu dem Beitrag von Roger Engelmann über den Weg zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, darauf hingewiesen werden, daß durchaus bekannt ist, wer 1991 die doppeldeutige Formulierung in Paragraph 32 des Gesetzes erfand, die letzten Endes zum "Leerlaufen der gesamten Regelung zu den Personen der Zeitgeschichte..." führte. Es war der damalige CDU-Abgeordnete Johannes Gerster, der nach Auffassung des Bundestagsabgeordneten Werner Schulz damit eine juristische Auffangposition für den Fall schaffen wollte, daß die Stasiakten Politikern gefährlich werden könnten (JF 12/02 und JF 13/02). Diese Möglichkeit hat Kohl dann genutzt, obwohl er das Gesetz selbst unterzeichnet hatte.

Foto: Altbundeskanzler Kohl klagt gegen die Herausgabe von Stasi-Abhörprotokollen 2001: Die Verunsicherung ist allgemein zu spüren

Siegfried Suckut, Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz. Olzog Verlag, München 2003, gebunden, 338 Seiten, beim BUSt gegen eine Schutzgebühr von 5 Euro erhältlich


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