© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/04 09. April 2004

Lebendige Tradition
Glaube im Alltag: Wallfahrten nach Maria Vesperbild
Georg Alois Oblinger

Ganz Deutschland muß schon seit Jahren einen deutlichen Rückgang an Gottesdienstbesuchern und erst recht an Beichtenden verzeichnen. Ganz Deutschland? Nein. Der bayerisch-schwäbische Wallfahrtsort Maria Vesperbild zieht alljährlich eine halbe Million Pilger an. Sonntags muß man frühzeitig da sein, wenn man noch einen Sitzplatz in der barocken Wallfahrtskirche ergattern will. Und in der Fastenzeit wird dort jedes Jahr ein neuer Rekord an Beichtzahlen verbucht.

Worin liegt das Geheimnis dieses Ortes? Der 1951 am Niederrhein geborene Monsignore Wilhelm Imkamp, der seit 1988 Wallfahrtsdirektor von Maria Vesperbild ist, versucht modern, nicht modernistisch zu sein. Einen Volksaltar hat er in seiner Kirche nicht, zum Predigen steigt er auf die Kanzel, und zum Austeilen der heiligen Kommunion benutzt er die Kommunionbank und die Kommunionpatene.

Wer in der Mahlfeier ein Gemeinschaftserlebnis sucht, wer liturgische Selbstdarstellung von Priestern und Laien erleben oder eine aufgeweichte Bibelauslegung hören will, ist in Maria Vesperbild fehl am Platz. Der Gottesdienst wird in Ehrfurcht und Würde gefeiert, wobei der traditionellen Volksfrömmigkeit großer Raum zugestanden wird. Die Predigten von Monsignore Imkamp sind realitätsnah, anschaulich und wortgewaltig. Vor allem aber bringen sie die Lehre der Kirche ungekürzt zum Ausdruck.

Im Augsburger Sankt-Ulrich-Verlag ist jetzt ein Buch mit dreißig Kurzpredigten von Wilhelm Imkamp erschienen. Es trägt den Titel "Moment mal! Durch die Bibel gesagt". Schon das Titelbild zeigt den Prediger, der auch Mitglied der Päpstlichen Theologenakademie ist, mit erhobenem Zeigefinger. Dieser Finger will um Aufmerksamkeit bitten. Diesen Zeigefinger gebraucht der Prediger aber auch, um auf Probleme hinzudeuten oder um seinen Zuhörern den rechten Weg zu weisen. Von Imkamp hört man keine frommen Floskeln, sondern katholischen Klartext. Er sagt es selbst: "Nicht Anpassung, klares Profil ist gefordert." - "Jesus ist kein Softi, seine Erlösungsbotschaft ist eine Botschaft der Buße und der Umkehr." - "Der erste Schritt dazu ist eine gute Beichte." - "Die vielleicht beste Gebetsschule ist der Besuch der Sonntagsmesse, denn für das Gebet gilt ganz besonders: learning by doing."

Treffend sind vor allem Imkamps Wortschöpfungen. Das dreimal tägliche Angelus-Gebet bietet er an als "Bibliodrama", die Beichte als "Aperitif für Ostern"; dann ruft er zur "Entscheidung zwischen dem Mahl der Weisheit und dem Fast food des Zeitgeistes." Wilhelm Imkamp versteht es, die Menschen von heute anzusprechen und für die Botschaft Christi zu interessieren. Er nutzt die moderne Welt, ohne sich an sie zu verkaufen.

Im "Legoland Deutschland" in Günzburg befindet sich ein maßstabsgetreuer Nachbau der Wallfahrtskirche von Maria Vesperbild. Publikumswirksam wurde dieser von Monsignore Imkamp gesegnet - natürlich in Soutane und Birett. Nun lädt der Wallfahrtsdirektor ein, das nur 25 Kilometer entfernte Original zu besuchen, um dort "Wellness für die Seele" zu erfahren.

Die Wallfahrtskirche ist ein Rokokobau aus dem Jahr 1756. Den Mittelpunkt bildet das Gnadenbild über dem Hochaltar, das sogenannte Vesperbild: eine geschnitzte Darstellung Mariens mit dem toten Jesus in ihrem Schoß. Der ausgestreckte Arm Jesu zeigt direkt auf den Tabernakel, das eigentliche Zentrum der Wallfahrt. Mariens Hand hält ein Tränentuch, so als wollte sie sagen: "Kommt zu mir! Ich verstehe auch euer Leid." Ungezählte Menschen aller Alters- und Bildungsschichten finden hier Trost in ihren Alltagssorgen.

Neben der Wallfahrtskirche befindet sich in einem kleinen Buchenwald die Fatima-Grotte mit großen Votivkerzen aus aller Welt. Im Halbkreis um die Fatima-Madonna sind mehr als 1.000 Votivtafeln aufgestellt - jede Tafel eine Glaubenserfahrung. "Maria hat geholfen", "Danke Jesus", "Danke Maria" - solche Inschriften wurden auch im 21. Jahrhundert noch verfaßt. Hier wird deutlich, was eine verbürgerlichte Religion vergessen hat: Der Glaube und das alltägliche Leben gehören zusammen. Die Hilfe Gottes läßt sich im Alltag konkret erfahren.

Wallfahrtsdirektor Imkamp und die sechs Priester, die unter seiner Leitung in Maria Vesperbild wirken, bieten das ganze Spektrum der katholischen Volksfrömmigkeit an: täglich Beichtgelegenheit und heilige Messen, Rosenkranz, Andachten und Prozessionen. Zur Lichterprozession an Pfingstsonntag und an Maria Himmelfahrt kommen jeweils etwa 10.000 Pilger in den größten schwäbischen Wallfahrtsort.

Hier wird traditionell-katholische Frömmigkeit weder durch Modernisierung banalisiert, noch verkommt sie zur bloßen Folklore. Das ist der Grund, warum sich Maria Vesperbild zu einem wahren Publikumsmagneten entwickelt hat: Es gibt sie noch, die lebendige Tradition!

Wilhelm Imkamp: Moment mal! Durch die Bibel gesagt. Sankt-Ulrich-Verlag, Augsburg 2003, 144 Seiten, 7,90 Euro.


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